Wintermädchen
wieder beantworten musst e … Nachdem Dad die Kriminalbeamtin angerufen hat, weil er mir nicht glaubt e … Nachdem Jennifer die Steaks hat anbrennen lassen und der Rauchmelder ansprang und sie deswegen was beim Chinesen bestellt ha t … Nachdem ich Emma ein Kapitel Harry Potter vorgelesen hab e … Nachdem Jennifer die Wanne für ein ausgedehntes Schaumbad in Beschlag genommen ha t … Nachdem Dad beim Auswerten von Unterlagen zum Vergleich der Wahlen von 1789 und 1792 eingeschlafen is t … ist endlich Ruhe im Haus.
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Das Handy kriecht aus seinem Versteck unter der Schmutzwäsche hervor und stiehlt sich in meine Hand. Während ich Cassies Nachrichten immer und immer wieder abspiele, schalte ich den Computer an und entschwinde in ein Land, in dem ich seit Monaten nicht mehr gewesen bin, ein flüstergeheimer Blog für Mädchen wie mic h …
Hab vom Frühstück bis nach der Schule ein Pfund zugenommen.
Den Rest des Tages nur noch Wasser und dann werd ich ab morgen wieder fasten.
Ich bin ohnmächtig geworden und eine Treppe runtergefallen.
Deswegen hab ich zwei Schüsseln Cornflakes gegessen, und jetzt fühle ich mich dermaßen dick. Wie lange muss ich joggen, um alles wieder runterzukriegen?
Mann, ich bin so eine FETTE KUH!
Ihr wisst, dass das stimmt.
Ich hab keine Lust mehr.
Ich hab zwei Wochen Zeit, um fünf Kilo abzunehmen. Hilfe!
Bleib stark, Schatzi, sei perfekt.
Hunderte und Aberhunderte seltsamer kleiner Mädchen, die hinter vorgehaltener Hand Schreie ausstoßen. Meine geduldigen Schwestern, die immer für mich da sind. Ich scrolle durch unsere Beichten, unser Gezeter, unsere Gebete, und die Verzweiflung frisst uns Bissen für Bissen auf.
Zwei Fliegen knallen gegen meinen Lampenschirm, summsumm, zwei Überbleibsel des Sommers, die nur noch ein paar Stunden zu leben haben. Als ich das Licht ausmache, schwärmen sie Richtung Computerbildschirm, tanzen über die Rippen und Hüften und Schlüsselbeine der Skinnygirls, die sich ihre Knochen unter der Haut hervorgezogen und obendrauf gelegt haben, damit sie schön in der Sonne trocknen können. Hübsch anzuschauen durch die Pergamentflügel zu spät geborener Fliegen.
Ich fahre den Rechner runter und krieche ins Bett.
Die Fliegen werfen sich gegen das feuchte Fenster, mit lautstarker Wut, dann kreisen sie über mir und warten auf einen günstigen Moment, um mir in den Mund zu kriechen. Vielleicht sind es ja Cassies Vertraute, Vorboten aus ihrem Grab, die ihre Ankunft ankündigen.
Ich kann ihr nicht allein gegenübertreten.
Ich schleiche mich die Treppe hinunter und stelle Emmas Stiefel auf die zweite Stufe von unten. Falls Dad wieder auftaucht, um einen Mitternachtsimbiss zu sich zu nehmen oder um zu arbeiten, wird er die Stiefel umstoßen und mich warnen.
Dann gehe ich in den Keller, schließe die Kellertür hinter mir ab und verbringe ein paar verschwitzte Stunden auf dem Stepper.
027.00
Am Freitag reißt mich eine Lautsprecherdurchsage mitten aus einem Englischtest und beordert mich ins Büro der Studienberatung. Dort teilt mir M s Rostoff mit, meine Stiefmutter habe angerufen und ich müsse früher nach Hause, um einen Notfalltermin beim Therapeuten wahrzunehmen.
»Warum?«
»Cassie«, sagt M s Rostoff. »Darüber zu reden, wird dir helfen.«
Der Riemen meiner Handtasche rutscht mir von der Schulter. Das tut er schon den ganzen Tag. »Vom Reden wird alles nur noch schlimmer.«
Sie wirft einen Blick auf ihren Bildschirm. »Physik würde also für dich ausfallen.«
»Oh«, sage ich und ziehe den Handtaschenriemen wieder hoch. »Das ist natürlich etwas anderes.«
Dr . Nancy Parker riecht nach Hustenbonbons mit Kirschgeschmack. Ich sitze auf ihrer wuchtigen Ledercouch, die Handtasche am Boden, und ziehe diese widerliche afghanische Tagesdecke über mich. Sie wickelt ein weiteres Hustenbonbon aus. Ich glaube, sie ist süchtig leidet an einer Abhängigkeit von diesem roten Farbstoff. Daran sollte sie dringend arbeiten.
Sie schaltet ihren Ventilator ein, der weißes Rauschen produziert, und steckt sich das Bonbon in den Mund. »Deine Eltern sind besorgt, dass Cassies Tod bei dir einen Prozess in Gang setzt.«
Von der Couch aus blickt man auf ein bis zur Decke reichendes Regal mit Büchern. Lauter Mist. Keins davon ist es wert, gelesen zu werden. Es gibt keine Märchen, keine Schwert schwingenden Prinzessinnen oder Blitze schleudernden Götter. Die Buchstaben, die Wörter ergeben, die Sätze ergeben, die Seiten ergeben, könnten ebenso gut
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