Wintermädchen
die Bilder in meinem Kopf an: die frierenden Rosen auf ihrem Sarg, zu Boden fallende Tränen, auf uns zurasende Trauerwolken, die der Sturm vor sich hertrieb. Ich würge und huste. Hätte ich heute was gegessen, würde es mir jetzt hochkommen.
Neben dem Tacho blinkt eine rote Warnleuchte auf. Ich krame in meiner Handtasche nach dem Handy, um Dad anzurufen und ihn zu fragen, ob der Motor explodieren wird, aber ich habe ja kein Handy mehr.
Ich drehe die Heizung voll auf und halte meine Nase an die Belüftung. Es riecht nach Cassie, und ich muss wieder würgen.
Ich habe Hunger, ich muss essen.
Ich hasse essen.
Ich muss was essen.
Ich hasse essen.
Ich muss was essen.
Ich liebe es zu fasten.
Das rote Öllämpchen geht an/aus, an/aus, an/aus. Ich gehe mit dem Schalthebel aus der Parkstellung und gebe Gas.
034.00
In der Briarwood Avenue steht ein individuell entworfenes Haus neben dem anderen. Hier gibt es keine Bürgersteige, keine heruntergekommenen Veranden. Die Rasenflächen sind es gewohnt, von der Haustür aus vornehm und sanft bis zur Straße hin abzufallen, jeder Halm wurde per Handarbeit auf die vorgeschriebene Länge gekürzt. Normalerweise ist die Straße menschenleer und sauber gefegt.
Heute nicht. Zu beiden Seiten der Fahrbahn parken Autos, ihre Reifen hinterlassen schmutzige Abdrücke an den Rasenrändern. Metalltüren knallen, Alarmanlagen werden aktiviert, Leute in schwarzen Mänteln stemmen sich gegen den Wind und kämpfen sich mit ernster Miene bis zu dem Haus, das gegenüber von dem meiner Mutter liegt.
Sie sind hier, um ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun, die letzte Ehre zu erweisen, den Preis dafür zu zahlen, dass sie die Eltern eines toten Mädchens kennen. Sie gehen hinüber zu Cassies Haus.
Ich parke in der Einfahrt meiner Mutter.
Mr s Parrishs Rosengarten hat sich auf beiden Seiten des Hauses ausgedehnt und den Vorgarten erobert. Die Büsche sind für den Winter zu dornigen Speeren gestutzt, eingewickelt in Leinensäcke, und in ihren Wurzeln schlummern Sommerträume von voller Blüte.
In diesem Garten habe ich Cassie zum ersten Mal kotzen sehen. Es war am Tag der Arbeit Anfang September, und ihre Eltern gaben eine Party für die Nachbarschaft, die letzte vor Schulbeginn. Die Erwachsenen tummelten sich lautstark und betrunken am Pool und kümmerten sich nicht um ihre Kinder: Die, die schon auf der Highschool waren, hatten sich mit Freund oder Freundin auf irgendein kuscheliges Sofa in irgendeinen einsamen Keller verzogen, die Kleinen waren schon im Bett. Wir waren nicht mehr klein, wir waren elf. Wir durften so lange aufbleiben, wie wir wollten, solange wir unseren Eltern nicht auf die Nerven gingen.
Ich rannte über die Straße zu mir nach Hause, um einen Pullover zu holen. Als ich zurückkam, war Cassie verschwunden. Ich suchte überall, bis ich sie im dunklen Rosengarten fand, weit entfernt vom Schein der Fackeln und dem Prasseln des Margarita-Mixers. Sie war am Würgen, hatte sich den Finger in den Hals gesteckt. Alles, was sie gegessen hatte, war auf dem Mulch gelandet: eine Tüte Kartoffelchips, fast eine ganze Packung Zwiebel-Dip, zwei superweiche Brownies und ein Stück Erdbeerkuchen.
»Ich hol deine Mutter«, sagte ich.
»Nein!« Sie hielt mich fest und stieß flüsternd und von Krämpfen geschüttelt ihre Erklärung hervor: Sie würde absichtlich kotzen, um nicht dick zu werden. Und weil sie an dem Abend schon zu lang gewartet hatte und die Kalorien bereits zu ihr durchdrangen, fing sie an zu weinen.
»Aber warum isst du denn Brownies, wenn du nicht dick werden willst?«, fragte das elfengleiche Mädchen, das ich war.
»Weil ich Hunger hatte!« Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und trafen auf ihr verschmiertes Kinn.
Ich scharrte Mulch über die Bröckchenpfütze und schmuggelte Cassie hinauf ins Badezimmer, damit sie sich die Haare waschen konnte. Ich wusch ihr überm Waschbecken mit Seife die Kotze von der Bluse und musste dabei selbst die ganze Zeit würgen. Während sie duschte, warf ich die Bluse in den Trockner. Ich benutzte ein Buttermesser, um den widerlichen Geruch von der Seife runterzukratzen.
Als wir uns später in unsere Schlafsäcke gekuschelt hatten, erzählte sie mir, dass beim Theatersommercamp alle Mädchen in ihrer Hütte gekotzt hatten. Und als ich wissen wollte, warum, meinte Cassie, sie seien allesamt superfett und dass man was dagegen unternehmen müsse. In dem Theaterlager lernte sie weitaus mehr als in der Schule.
In der achten Klasse
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