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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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aus ihrem Bademantel und legt beides in Reih und Glied neben die Gabel. Dann sinkt sie auf den Stuhl, ihre Augen starren ins Leere und spiegeln sich irgendwo auf dem Teller.
    »Wer war es?«, frage ich.
    Sie blickt hoch. »Wer war was?«
    Ich gieße die verrührten Eier langsam in die Pfanne. »Welcher Patient ist gestorben?«
    »Woher weißt du, dass ein Patient gestorben ist?«
    Ich hebe das Omelett ein wenig an, damit das restliche flüssige Ei darunterlaufen kann. »Du weinst nur so unter der Dusche, wenn du einen Patienten verlierst.«
    Die Pfanne zischt. Die Zeitschaltuhr vom Herd macht Pling!
    Mom legt sich die Serviette auf den Schoß. »Sie war eine Sozialarbeiterin, die Pflegekinder aufnahm. Dilatative Kardiomyopathie, sehr weit fortgeschritten, sie lag länger auf der Transplantationsetage als alle anderen. An Thanksgiving habe ich ihr ein neues Herz verpflanzt. Heute hat es ausgesetzt. Sie starb, ehe wir irgendetwas machen konnten.«
    Während sie redet, verteile ich den Spinat auf dem Omelett, streue Käse darüber und falte es zusammen. Dann lasse ich es auf den Teller gleiten und stelle ihn vor sie hin.
    »Danke.« Sie probiert einen Bissen, obwohl es gerade erst aus der heißen Pfanne kommt. »Das schmeckt ziemlich gut. Ich hoffe, du machst dir selbst auch eins.« Wie ein Roboter, immer dieselbe Anzahl von Kaubewegungen pro Bissen, dieselbe Sekundenanzahl von einem Schlucken zum nächsten, bis das Omelett verschwunden ist und ihr Tank wieder voll.
    Wir schreien uns nicht an. Wir zücken nicht unsere schärfsten Messer, um uns damit zu verletzen. Gut so.
    Warum lange um den heißen Brei herumreden? Ich komme gleich zur Sache und warte ab, was passiert.
    »Ist Cassie auch so gestorben?«, frage ich. »An Herzversagen?«
    »Ich möchte lieber nicht mit dir darüber sprechen«, sagt Mom. »Im Moment nicht.«
    »Aber du hast doch schon den Autopsiebericht gesehen, oder?«
    »Ich denke nicht, dass das der richtige Zeitpunkt is t …« Ihr Piepser auf dem Tisch beginnt zu vibrieren. »Verdammt.« Sie liest die Nachricht und hämmert eine Nummer ins Handy. »Hier Dr . Marrigan.«
    Ich verbrenne mir die Fingerspitzen, als ich die Muffins aus dem Ofen hole. Sie wollen mir direkt in den Mund springen. Nein, sie wollen sich erst in Butter und Honig wälzen und mir dann in den Mund springen, eins, zwei, drei, vier. Und dann Eiscreme und dann ein paar Kekse und ein Becher Schokoladenglasur und drei Tüten Popcorn.
    Dr . Marrigan gibt Anweisungen zu Medikationen und Infusionen und Transplantationen, dann legt sie auf. »Sind die Muffins fertig?«
    »Noch ein bisschen heiß.«
    »Das macht nichts.«
    Ich nehme den schmutzigen Omelettteller und setze ihr drei Muffins vor. »Du hast gesagt, du würdest Mr s Parrish die Ergebnisse der Autopsie erklären.«
    »Das stimmt.«
    »Und?«
    »Willst du gar nichts essen?«
    Ich stelle den schmutzigen Teller in die Spüle. »Ich habe keinen Hunger.«
    Mom pult das rosafarbene Krepppapier von dem Muffin herunter. »Was hast du zu Mittag gegessen?«
    »Ich hab noch nicht Mittag gegessen.«
    »Es ist fast zwei. Iss doch einen Muffin.«
    »Ich möchte keinen.«
    »Und Eier. Die Proteine könntest du gebrauchen.«
    »Ich hatte heute Morgen Cornflakes mit Milch.«
    »Du musst etwas essen.« Da ist sie wieder, diese Stimme, die Befehle erteilt und Gehorsam verlangt.
    »Mo m …«
    Wieder gibt der Piepser ein Signal, beginnt auf dem Tisch herumzuhüpfen wie eine wütende Biene. »Verflucht!« Sie geht ran. »Dr . Marrigan?«
    Ich lege die Pfanne und die Muffinform in die Spüle, drehe das heiße Wasser auf und gieße Spülmittel hinein. Von der Hitze in der Küche sind die Fensterscheiben beschlagen.
    Das echte Mädchen, das ich war, schleicht sich hinaus und lauscht den Echostimmen, die sich in jedem Zimmer dieses Hauses schrecklich anschreien. Mom gegen Dad. Dad gegen Mom. Dad gegen Moms Beruf. Mom gegen Dads Freundinnen. Mom/Dad gegen Lias Zeugnisse, Lias Schulaufführungen, Lias Entscheidung, mal wieder alles hinzuwerfen. Lia gegen alles und jeden.
    Die Worte schlüpften dem Mädchen in den Mund, als es nicht aufpasste, wie ein Insekt in einer Sommernacht, das man aus Versehen verschluckt und das sich in der Kehle festkrallt. Die Stimmen schwammen durch sein Innerstes und vervielfachten sich, hartnäckige, blecherne Echostimmen, die sich dauerhaft im Schädel des Mädchens einnisteten.
    ::dumm/hässlich/dumm/Schlampe/dumm/fett/
dumm/Baby/dumm/Loser/dumm/verloren::
    »Lia, ich hab

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