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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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war sie schon ein Profi. Sie entwickelte Farbcodes: Zu Beginn einer Fressattacke aß sie leuchtend orangefarbene Doritos oder was Heidelbeerblaues, damit sie beim Kotzen wusste, wann sie es geschafft hatte. Ihr bevorzugter Finger war mit Rissen übersät, die niemals heilten. Ihrer Mutter erzählte sie, das käme vom Fußball- bzw. Lacrossetraining oder vom Theaterspielen bzw. Kulissenbau. Oder dass der Hund nach ihr geschnappt hätte.
    Cassie wurde die Achterbahnattraktion im Vergnügungspark Mittelstufe. Und ich war das Karussellpferd, in der Bewegung erstarrt, mit gemalten offenen Augen, von denen die Farbe abblättert e …
    Ich sollte die Erde neben der Nearly-Wild- Rose aufscharren und Pinkys streichholzgroße Knochen herausholen, die immer noch warm im blauen Bandana-Kopftuch liegen. Ich sollte sie in einen Pullover einweben oder sie auffädeln und als Kette um den Hals tragen. Wenn ich das grüne Meerglas noch hätte, würde ich es gleich mitverarbeiten. Jedes Mal, wenn ich mir verloren vorkomme, könnte ich es mir vors Auge halten. Besser als eine kreiselnde Kompassnadel.
    Neben dem blinkenden roten Lämpchen erscheint die Warnung, dass der Tank so gut wie leer ist. Macht nichts.
    Meine Mutter Dr . Marrigan fährt in die Einfahrt. Sie wirft mir durch die Scheibe ihres Fensters und die Scheibe meines Fensters einen Blick zu, während das Garagentor aufgeht. Ihre Nase ist rot und die Augen sind verquollen, als hätte sie geweint. Dann dreht sie den Kopf von mir weg und fährt hinein.
    Ich bleibe noch kurz im Wagen sitzen, dann folge ich ihr.
    035.00
    Bestimmt wartet sie in der Küche auf mich, die Raumtemperatur beträgt fünfzehn Grad, der Stichwortzettel für ihre Standpauke beinhaltet akribisch aufgelistet meine Mängel und Fehler, geordnet nach Wichtigkeit. Sie hat Diagramme parat, die belegen, dass ich alles falsch mache und dass meine letzte Hoffnung wäre, mir ihre Stammzellen ins Rückenmark spritzen zu lassen, damit dann ein Duplikat von ihr, verpackt in meiner Haut, entstehen kann.
    Nein, sie ist doch nicht in der Küche.
    Sie wartet wohl in der Bibliothek, das Zimmer, das normale Leute »Wohnzimmer« nennen.
    Fehlanzeige. Kilometerlange staubige Bücherregale und auf dem Couchtisch stapeln sich kardiologische Fachzeitschriften. Keine Dr . Marrigan.
    Auch nicht auf dem Laufband im Keller, nicht auf dem Ergometer, nicht auf der Hantelbank oder beim Bauchmuskeltrainer.
    »Mom?«
    Die Rohre im Keller klappern und der Boiler springt an. Offenbar duscht sie.
    Ich gehe die Treppe hoch und tappe auf Zehenspitzen über den gebohnerten Boden ihres Schlafzimmers, drehe laaaaangsam den Türknauf und öffne die Badezimmertür einen Spaltbreit. Eine Dampfwolke quillt heraus, vermischt mit den Schluchzern einer erwachsenen Frau, die in die Einzelteile eines Mädchens zerfällt.
    Ich mache die Tür wieder zu.
    Als sie eine Stunde später herunterkommt, ist der Kaffee fertig, der Orangensaft eingegossen und ein Platz für sie eingedeckt, mit Oma Marrigans feinem Porzellan, dem alten Silberbesteck aus der Riesentruhe im Esszimmer und einer schneeweißen Stoffserviette. So wie sie es mag, genau so.
    Die Tränen sind getrocknet, aber ihre Nase ist immer noch rot. Sie blickt sich in der Küche um, erneut völlig aus dem Konzept gebracht, weil ich mich nicht ans Drehbuch halte.
    Ich reiche ihr das Saftglas. Während sie einen Schluck trinkt, schlage ich drei Eier auf und schalte die Flamme unter der Pfanne an, um die Butter zu schmelzen.
    Jede Bewegung in einer Küche ist eine Prüfung.
    Ich bin stark genug, um eine Packung Butter hochzuheben. Ich bin stark genug, das Papier abzumachen, einen Klacks in die Pfanne zu tun und zu sehen/hören/riechen, wie sie zerläuft.
    Ich wasche mir das fettige Schmierzeug von den Fingerspitzen, ohne davon zu kosten. Heute bestehe ich alle Prüfungen mit Bravour.
    »Seit wann kannst du denn kochen?«, fragt sie.
    »Jennifer hat’s mir gezeigt. Emma liebt Omeletts.«
    Meine Mutter schnuppert. »Ist da was im Ofen?«
    »Ich wollte Muffins mit Karotten und Rosinen machen, die liebt Emma auch. Aber du hast keine Karotten oder Rosinen, also sind es jetzt Muskatmuffins geworden.« Ich verrühre die Eier. »Dein Kühlschrank ist ziemlich leer. Für dein Omelett stehen nur Zwiebeln oder Spinat zur Auswahl.«
    Sie wirft einen Blick auf das gehackte Gemüse auf dem Schneidebrett. »Spinat.«
    Ich schenke ihr Kaffee ein und reiche ihr die Porzellantasse. Sie stellt sie ab, zieht Handy und Piepser

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