Wintermädchen
du, dass sie mich angerufen hat?
Elijah der Schweigsame.
Lia: Bist du noch da?
Elijah: Können wir später darüber reden?
Lia: Nein. Du musst es mir sagen. Das wollte sie so.
Elijah, nach einmal tief Luft holen: Sie hat Donnerstagabend eingecheckt, aber ich bin ihr erst am Samstag über den Weg gelaufen. Sie hat mich eingeladen, ein bisschen mit ihr zusammen abzuhängen, also ging ich nach der Arbeit zu ihrem Zimmer. Sie hatte getrunken – viel getrunken. Ich hab ein paar Kekse gegessen und fand das alles gar nicht cool. Also ging ich wieder.
Lia: Woher weißt du, dass sie mich angerufen hat?
Elijah: Ich hab bis Mitternacht mit Charlie Karten gespielt und wollte dann in die Stadt fahren. Cassie sah mich vorbeilaufen und machte ihre Tür auf. Sie weinte sich die Augen aus und brabbelte irgendwas von Lia, die sauer auf sie sei, Lia, die nicht ans Telefon gehe. Ich meinte zu ihr, schlaf erst mal drüber. Aber sie ließ mich nicht in Ruhe, bis ich mir deine Telefonnummer aufschrieb und versprach, dir was auszurichten. Ich hab dann geguckt, dass ich wegkam.
Lia: Was hat sie gesagt?
Elijah: Ich hab das übrigens auch schon alles der Polizei erzählt. Die haben sich die Bänder der Überwachungskameras angesehen. Gut, dass Charlie so paranoid ist. Ich hab sie nie angerührt. Nicht mal ihre Handtasche geklaut, obwohl ich es hätte tun können. Sie taucht auf dem Video auf, ein paar Stunden nach meiner Abfahrt. Man sieht, wie sie über den Parkplatz taumelt und den Mond ansingt. Dann ist sie wieder reingegangen.
Lia: Was solltest du mir ausrichten?
Elijah: Ach, eigentlich nichts. Vergiss nicht, dass sie besoffen war.
Lia: Sag’s mir.
Elijah: Sie hat gesagt: Richte Lia aus, dass sie gewonnen habe. Ich hab verloren, und sie hat gewonnen. Genau so hat sie es gesagt. Damals erschien mir das total wichtig, aber inzwischen finde ich es irgendwie albern. Hattet ihr zwei eine Wette am Laufen? Was hast du denn gewonnen?
Ich lege auf, ohne mich zu verabschieden.
Ich habe die Wintermädchenreise über die Grenze ins Land der Gefahren gewonnen.
048.00
Ich drehe die Musik wieder bis zum Anschlag auf und gehe ins Badezimmer, um mir den Anruf, den Staub und das Sandwich aus dem Mund zu schrubben.
1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
Ich habe nicht gewonnen. Nicht zu fassen, dass sie das gesagt hat. Typischer Cassie-Schwachsinn, melodramatisch und übertrieben. Es ist nicht meine Schuld, dass sie so schnell ausrastete oder dass ihre Eltern sie nie beachteten. Nicht meine Schuld, dass sie gekotzt hat oder dass Kotzen für sie die einzige Möglichkeit war, sich besser zu fühlen.
Sie hat mich angerufen.
Ich bürste, bis mein Zahnfleisch blutet, danach bürste ich härter. Lia-Saft tropft mir das Kinn hinunter und verwandelt mich in einen hungrigen Vampir, bereit, jedem, der mir auf die Nerven geht, das Leben auszusaugen. Vielleicht ist das ja mein Problem. Vielleicht gehöre ich zu den Untoten. Vampire sind blass, kalt und dünn, so wie ich. Insgeheim verabscheuen sie den Geschmack von Blut, hassen es, wie sie Menschen zum Weinen bringen, hassen Friedhöfe und Särge und das innere Scheusal, das sie antreibt. Und sie werden diesen Hass leugnen, bis ihnen jemand einen Pflock ins Herz treibt.
… lebloser Körper, allei n …
Ich halte meinen Mund unter den Wasserhahn, spüle und spucke aus.
Die Waage auf dem Fußboden gerät in mein Blickfeld, die richtige, nicht die Lügenwaage. Ich ziehe mich aus, stelle mich drauf, um meine Ausrutscher zu wiegen und meine Sünden zu messen.
4 0 Kilo.
Ich könnte sagen, dass ich nun glücklich bin, doch das wäre gelogen. Die Zahl spielt keine Rolle. Wenn ich es bis auf 3 2 Kilo runterschaffen würde, würde ich 29 wiegen wollen. Wenn ich 5 Kilo wöge, wäre ich erst zufrieden, wenn es 2,5 sind. Die einzige Zahl, die wirklich okay wäre, ist die Null. Null Kilo, null Leben, Konfektionsgröße null, Doppel-null-Abkommen, bei null anfangen. Null im Tennis nennt man love, also Liebe. Endlich geht mir ein Licht auf.
Ich öffne das Fenster und werfe die Waage auf die Auffahrt. Drehe die Dusche heiß auf, starre in den Spiegel. Die Löcher in meinem Gesicht sind mit Sand und Eiter gefüllt. Das Weiß meiner Augen bildet Pfützen aus verschütteter Limonade, mit lilafarbenen Schatten darunter. Meine Nase besteht aus Haaren und Schnodder, meine Ohren sind aus Kerzenwachs, mein Mund ist eine Kloake. Ich bin gefangen im Spiegel und es
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