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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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und hinunter und dann an der Decke entlang.
    Cassie hält meine Hand und flüstert mir die Zahlen zu. »Im Krankenwagen war dein Puls bei 33, schlimme Bradykardie. Das EKG war seltsam, wahrscheinlich aufgrund der Dehydrierung und des Blutverlustes. Deine Atmung ist in Ordnung, aber dein Blutdruck und deine Körpertemperatur sind miserabel.«
    Ich schließe die Augen.
    Als ich sie wieder öffne, kommt Cassie mit den Laborwerten an mein Bett.
    »Anämie«, sagt sie. »Und der Blutzucker ist zu niedrig, niedriger Phosphatspiegel, niedriger Kalziumspiegel, T3-Wert zu niedrig – keine Ahnung, was das ist – weiße Blutkörperchen erhöht, Blutplättchen vermindert. Sie haben dich mit schwarzem Zwirn wieder zugenäht, ausgerechnet mit dreiunddreißig Stichen, ist das nicht verrückt? Ach, und du hattest Ketone im Urin. Mach weiter so, dann können wir zusammen Silvester feiern. Bleib stark, Schatz.«
    »Wo ist Emma?«, frage ich.
    Eine Krankenschwester hängt mir Ketten aus Plastikschläuchen und grünen Drähten um und dekoriert das Zimmer mit Tüten voll Wasser und Blut. Sie sticht mich mit einer Nadel.
    Ich lege mich zurück und bin in einem Glassargtraum, in dem Rosenranken die Wände hinaufklettern und eine dornige Festung um mich spinnen.
    051.00
    Zwei Tage später, zwei Tage vor Weihnachten werde ich als hinreichend fett und vernünftig befunden, dass man mich aus dem Krankenhaus werfen kann. Aus dem Plan, mich gleich wieder ins New Seasons zu schicken, wird nichts. Der Gasthof hat für eine mit lauter Dreck aufgepumpte Lia-Lederhaut kein Zimmer frei. Im Moment nicht. Der Leiter verspricht Mom Dr . Marrigan, dass er nächste Woche ein Bett für mich organisiert.
    Bis dahin bin ich stabil genug, um nach Hause zu gehen. Alle behaupten, ich sei stabil.
    Ich habe es nicht geschafft zu essen, nicht geschafft zu trinken, nicht geschafft, mich nicht in Schnipsel zu schneiden. Habe es nicht geschafft, eine Freundin zu sein. Eine Schwester. Eine Tochter. Habe es nicht geschafft, mit Spiegeln, Waagen und Telefonanrufen klarzukommen. Gut, dass ich stabil bin.
    ***
    Dad holt mich vom Krankenhaus ab. Er war jeden Tag ohne Jennifer hier (und achtete dabei darauf, Mom nicht in die Arme zu laufen) und hat mit seinem Kopf auf meiner Matratze geweint, aber gesagt hat er kaum etwas, nicht mal, als er mir beim Einsteigen ins Auto half.
    Während ich an den Schläuchen hing, hat es geschneit. Die weißen Felder reflektieren die Sonne, so hell, dass man fast nicht hinsehen kann. Ich klappe die Sonnenblende herunter und ein fremdes Mädchen starrt mich aus dem Spiegel darin an. Ein Teil meines Gehirns – der mit Wasser versorgte und mit Glykogen ernährte – weiß, dass ich mich selbst betrachte. Aber der andere, größere Teil bezweifelt es. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich aussehen sollte. Sogar der Name auf dem Krankenhausarmband erscheint mir seltsam, als stünden die Buchstaben nicht in der richtigen Reihenfolge oder als ob ein Teil des Namens fehlte.
    Ich klappe die Sonnenblende wieder hoch und hoffe, dass Dad nicht bemerkt hat, wie ich zusammengezuckt bin.
    Die Ärzte haben mich mit Zwirn wieder zusammengeflickt. Ich vergesse die Nähte immer, bis ich mich zu schnell bewege und der Schmerz urplötzlich losbricht. Außerdem hat man mich mit Zuckerlösung vollgepumpt, und die Mahlzeiten wurden auf einem in fünf Rechtecke unterteilten Plastiktablett serviert. Dieses Gehirn da stand unter der einen Droge, dieser Körper da unter einer anderen. Diese Hand da stopfte mir Essen in den Mund, zu schnell, um die Bissen zählen zu können.
    Sie haben mich wieder zusammengeflickt, aber nicht mit Doppelknoten. Meine Innereien sickern aus den Versagerlinien meiner Haut hervor, das spüre ich, aber jedes Mal, wenn ich nach den Verbänden taste, sind sie trocken.
    Ich zerre dieses Ich da wieder zurück in den Körper auf den Beifahrersitz im Wagen meines Vaters.
    »Wo ist Emma?«, frage ich. »Fangen heute nicht die Winterferien an?«
    Dad drückt einen Knopf am Armaturenbrett. Eine Jazztrompete fällt viel zu laut über uns her. Ich strecke die Hand nach dem Lautstärkeregler aus, verziehe dabei vor Schmerzen mein Gesicht, drehe leiser.
    Er fährt vierundzwanzig Kilometer weiter, ohne einen Ton zu sagen.
    Als wir den Highway verlassen, biegt er nicht rechts ab, sondern links, nach Norden, auf die dunkle, Sturm verheißende Wolkenfront zu, die noch mehr Schnee aus der Arktis bringt.
    »Wo fahren wir hin?«
    »Ich bringe dich nach

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