Wintermädchen
Krankenhaus probiert. Zwei Mal.« Der Umhang gleitet mir von den Schultern. »Du hast doch gesagt, es sei das letzte Mal gewesen, weil damit unsere Versicherung ausgeschöpft sei.«
»Falls du wieder stationär aufgenommen werden musst, verkauft deine Mutter ein paar Wertpapiere und ich nehme eine neue Hypothek aufs Haus auf. Aber so weit muss es ja gar nicht kommen. Wenn du nur essen würdes t …«
»Ich muss nicht so essen wie ihr.«
»Verdammt noch mal, Lia!«, brüllt er. »Das ist nicht wahr, und das weißt du! Sollen wir denn zulassen, dass du dich zu Tode hungerst?«
Früher hat mir Dads Brüllstimme immer Angst eingejagt. Nun werde ich einfach gemein. »Deine Frau sieht mir doch zu, wie ich jede Woche auf diese alberne Waage steige.«
»Und du hast abgenommen. Diese Woche war es wie viel? 4 7 Kilo? Du hast mir hoch und heilig versprochen, die 5 0 Kilo zu halten.«
»Ich bin zierlich gebaut und habe einen schnellen Stoffwechsel.«
»Wieder dieser Blödsinn!« Er sprüht Sandwichspucke über den Tisch. »Du hast mich angefleht, hier einziehen zu dürfen! Nicht eine Minute länger könntest du bei deiner Mutter leben. Du hast behauptet, sie wäre das Problem, und ich habe dir geglaubt, genau wie ich dir geglaubt habe, als du versprochen hast, ehrlich zu sein.«
Ich versuche meine Stimme zu senken. Je schlimmer er ausrastet, desto besser muss ich mich im Griff haben. »Als ob deine Versprechungen irgendwas wert wären. All die abgesagten Wochenenden, unsere geplanten Ausflüge, das Haus am See, das du angeblich kaufen wolltes t …«
Er funkelt mich wütend an. »Jetzt wechsele nicht das Thema.«
»Ich brauche Zeit, Dad«, sage ich. »Ich schaffe es einfach nicht, mir Essen in den Mund zu stopfen. Ich muss mein Leben ganz von vorn beginnen.«
»Und wann genau wird das passieren?« Seine Stimme ist nun nicht mehr nur laut, sondern klingt auch widerlich. Dieselbe Stimme, die früher immer mit meiner Mutter stritt, wenn ich eigentlich schlafen sollte. »Noch irgendwann in diesem Jahr? In diesem Jahrhundert?«
»Ich arbeite dran«, sage ich.
»Nein, tust du nicht! Du wohnst jetzt seit sechs Monaten hier und hast deine verdammten Kartons noch immer nicht ausgepackt.«
»Ach, ist dir das auch schon aufgefallen?«, schnauze ich zurück.
»Was soll das denn heißen?«
»Du bist doch nie da! Jennifer kümmert sich um alles, damit du zu deinen Meetings gehen kannst und in die Bibliothek und zum Squash und zu deinen schicken Abendessen. Oh, Moment mal, wann habe ich das schon einmal erlebt? Hast du etwa eine neue Freundin, Daddy? Alles klar für Runde zwei vorm Scheidungsgericht? Vergiss nicht, für Emma einen guten Therapeuten aufzutreiben; sie hält dich nämlich für einen Gott!«
Sein Gesicht sieht aus, als hätte er gerade einen Herzinfarkt. Die Muskeln seiner Kiefer sind so heftig angespannt, dass die Zähne zersplittern könnten. Jeden Moment wird er mich hochheben und durch ein Fenster schleudern, und dann fliege ich so ungefähr tausend Kilometer, ohne den Boden zu berühren.
Er greift nach der Milchkanne und schenkt sich nach. Nimmt einen großen Schluck und stellt das Glas dann sehr behutsam zurück auf den Tisch. »Mach jetzt keine Bestandsaufnahme meiner Fehler daraus. Wir reden über dich, Lia.«
Seine Gesichtszüge sind vor Enttäuschung erschlafft. Seine Augen sind rot umrändert von langen Nächten, zu vielen Fehlern und einer missratenen Tochter. Es ist leichter, sich zu wehren, wenn er brüllt.
»Ich wünschte, ich könnte verstehen, was in dir vorgeht.« Wieder neigt er den Zauberstab, ohne jedoch auf das Geglitzer zu achten. »Wovor du solche Angst hast.«
In meinem Kopf beginnt sich das Karussell wieder zu drehen, so schnell, dass ich nur noch honiggelbe, erdbeerrote und traubenblaue Blitze an meinen Augen vorbeihuschen sehe. Ich hätte niemals herkommen sollen, aber ich konnte nirgendwo anders hin.
»Bitte, Lia.« Seine Stimme ist zu einem Flüstern gesenkt. »Bitte, iss.«
Das Karussell kracht auseinander, und Splitter und Farbfetzen fliegen mir durch den Kopf.
Ich schnappe mir das Sandwich von seinem Teller und stopfe es mir in den Mund.
»So richtig?«, schreie ich. »Guck doch, Lia isst! Lia isst!« Bei jedem Kauen reiße ich meinen Mund so weit auf, dass Brot, Gelee, Erdnussbutter und Spucke in den Abgrund kleckern, der zwischen uns liegt. »Bist du nun zufrieden?«
Er ruft meinen Namen, als ich aus dem Zimmer renne.
Er läuft mir nicht hinterher.
047.00
In meinem
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