Wintermaerchen
anfingen, über den Winter zu reden, begann ich das Klavier zu hören – und dann erlebte ich, wie die Vergangenheit rings um uns her allmählich Helligkeit verbreitete. Ich dachte mir, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten, aber Sie haben mir sowieso schon sehr geholfen.«
»Was für Musik spielt das Klavier denn?«
»Oh, das wüsste ich nicht zu sagen, selbst wenn ich es besser hören könnte.«
»Und wer spielt?«
»Ich fürchte, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, Sir. Aber sie spielt wirklich schön – wer immer sie ist.«
*
Einsame Menschen erleben manchmal Begeisterungsstürme, für die es nicht immer eine Erklärung gibt. Wenn ihnen etwas komisch vorkommt, sind Intensität und Länge ihres Gelächters ein Spiegel für die Tiefe ihrer Einsamkeit, und ihr Lachen kann dann so klingen wie das einer Hyäne. Wenn jedoch etwas an ihre Gefühle rührt, dann durchläuft es sie wie ein heiliger Schauer und mobilisiert in ihnen ganze Armeen von Empfindungen.
Die arme Mrs Gamely war jahrelang sich selbst überlassen gewesen. Als sie sich plötzlich ihrer Tochter und einer richtigen neuen Familie gegenübersah, die nun auch ihre Familie sein sollte, verkraftete sie kaum den Schock und weinte ganze Sturzbäche.
Virginia umarmte ihre Mutter. Auch ihr kamen die Tränen. Da begannen die Kinder, wie junge Katzen zu wimmern, obwohl sie nicht wussten warum, und sogar Hardesty war von der Liebe zwischen Mutter und Tochter gerührt. Er erinnerte sich an seine eigenen Eltern und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Seine Augen waren schon längst wieder trocken, da hielt das Weinen und Wimmern noch immer an. Als die Uhr die Viertelstunde schlug (sogar der Glockenklang der Uhr vermochte den weinenden Frauen und Kindern einen neuen Tränenschwall in die Augen zu treiben), begann Hardesty unruhig im Raum auf und ab zu gehen. Er hoffte, dass sie bald fertig waren. »Was soll das?«, fragte er. »Seid ihr ein Wasserwerk?« Aber dann, als er Virginias anthrazitfarbenes Kostüm unter den Falten ihres halbgeöffneten Mantels sah, wurde ihm schlagartig ihre Vielseitigkeit bewusst: Sie war zugleich Weltstadtjournalistin im maßgeschneiderten Kostüm und eine Tochter des Cooheries-Sees, die sich hier draußen auf dem Land pudelwohl fühlte. Er schloss sie in die Arme, strich ihr das Haar aus dem vom Weinen geröteten Gesicht und küsste sie mit so viel Liebe, dass sich Mrs Gamelys Herz blähte wie ein Fesselballon.
In jener Nacht machten die Kinder kaum ein Auge zu. Die Vorfreude auf den nächsten Morgen, an dem sie den Coheeries-See im hellen Licht des Tages erblicken sollten, war stärker als die freudige Erwartung des Weihnachtsfestes. Genau wie sie es erwartet hatten, verloren sie sich rasch in der Schönheit der Wintertage und der kalten Nächte, die keinen Anfang und kein Ende kannten. Da Hardesty etwas von Booten verstand, lernte er rasch mit einem Eissegler umzugehen. Oft nahmen sie die Katerina , das größte und langsamste der Boote, füllten es mit Proviant und Steppdecken und fuhren bei Tagesanbruch in die Grenzenlosigkeit des Sees hinaus. Die Kinder schliefen auf dem Schoß der Frauen, bis die Sonne kräftiger vom Himmel herabschien. Wenn sie dann erwachten, sahen sie staunend nichts als blauen Himmel und spiegelglattes Eis, über das der Wind kaum sichtbare Schneeflöckchen trieb. Die hohe Geschwindigkeit hatte sie ihrer ornamentalen Form beraubt, sodass sie wie glitzernde Glassplitter dahinschossen.
Bei solchen Ausflügen glitten sie stundenlang übers Eis, bis sie so weit vom Land und anderen Booten entfernt waren, dass sie sich manchmal wie die einzigen Menschen auf der Welt vorkamen. Gegen Mittag holten sie das Segel ein und blockierten die doppelten Eisbremsen. Mit der Katerina zwischen sich und dem Nordwind, die Sonne auf den geröteten Gesichtern, machten sie Feuer in einer mit Sand gefüllten Kiste und erhitzten darüber einen Kessel voll Eintopf. Dazu aßen sie aufgebackene Buttersemmeln und tranken dampfend heißen Algonquian-Tee. Danach wurde im Allgemeinen ein Weilchen Schlittschuh gelaufen. Manchmal improvisierten Hardesty und Martin auch ein Eishockeymatch und mussten erleben, dass Virginia ihnen den Puck immer wieder mühelos abnahm und ihn behielt, solange sie wollte. Oder sie bohrten ein Loch ins Eis, aus dem sie innerhalb von zehn Minuten beliebig viele Lachse, Barsche und Forellen zogen. Die Fische wurden sachkundig zwischen Eisbrocken in einer Blechkiste verstaut, die auf
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