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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Gefangene fühlten, sondern dass sie vielmehr in dieser warmen Scheune ausruhten, wohin die Farmer sie freundlicherweise gebracht hatten. Seine Vermutung wurde auch dadurch bestätigt, dass Pearly nur ein unzufriedenes Gesicht zu machen brauchte, damit die Wände der Scheune erzitterten.
    Doch soweit Hardesty wusste, hatte all dies nichts mit Abbys Krankheit zu tun. Indem er den Bauern gewissermaßen ihren Arzt stahl, beraubte er sie auch der kundigen Ratschläge, die er ihnen hätte geben können, als sie darüber berieten, was sie mit den hergelaufenen Kreaturen anfangen sollten.
    *
    Schon am nächsten Abend lenkte Hardesty den Schlitten unter dem silbernen Licht des Mondes mit rasanter Geschwindigkeit aus dem Dorf am Coheeries-See hinaus. Er ließ die Peitsche dicht über dem Kopf der Stute knallen, bis sie die vor ihr liegende Landstraße in sich hineinfraß wie ein hungriger Köter die Wurst. Doch obwohl sie sich mit Feuer und Flamme dem wilden Rennen hingab, war dies für Hardesty noch nicht genug. Während er den Blick prüfend über die Landschaft schweifen ließ, spornte er das Tier mit lauten Zurufen zu immer größerer Geschwindigkeit an. Neben ihm lag eine automatische Schrotflinte. Virginia hielt eine Waffe desselben Typs auf dem Schoß, und Mrs Gamely, die auf dem Rücksitz mit Martin und Abby unter einer Art Zeltdach kauerte, hielt ihre doppelläufige Ithaca Kaliber 12 umklammert.
    Die seltsamen Gentlemen waren aus dem Städtchen hinaus bis zu der höher gelegenen Landstraße eskortiert worden. Nun sahen sich die Marrattas und Mrs Gamely gezwungen, mitten durch ihre Reihen zu fahren, denn nachdem der Arzt erklärt hatte, er könne Abby nicht behandeln, waren sie sofort aufgebrochen. Die Kleine musste unverzüglich ins Krankenhaus. Die Familie konnte sich keinen Tag länger den Luxus erlauben, die Sicherheit und Abgeschiedenheit des kleinen Dorfes am See zu genießen. Jetzt brauchten sie die große Stadt genauso dringend, wie es sie vor kurzer Zeit von ihr fortgezogen hatte, ja die Not war diesmal noch viel größer. Der Arzt hatte sich nicht bereit gezeigt, sie über die Besonderheiten der Krankheit aufzuklären.
    »Dazu ist später noch Zeit«, waren seine Worte gewesen. »Natürlich wollen Sie alles wissen, was es darüber zu wissen gibt, und Sie werden es auch erfahren. Ob jetzt oder später, macht kaum einen Unterschied.« Sprachlos hatten sie ihn angehört, und sie hatten ihm nicht geglaubt. Was wusste schon ein Landarzt? Wenig später waren sie schon unterwegs.
    Sie waren bis zu den Zähnen bewaffnet, denn sie machten sich darauf gefasst, dass es die Gefangenen nach ihrer Freilassung auf Pferd und Schlitten abgesehen hätten. Es gab nur diese eine Straße, und der Schnee war zu tief, um querfeldein zu fahren. Hardesty rechnete sich aus, dass sie den seltsamen Trupp kurz vor Verlassen der Ebene am Fuß des Gebirges einholen würden. Je eher, desto besser, sagte er sich, denn im Flachland kam die Stute schneller voran als in gebirgigem Gelände. Deshalb trieb er sie unbarmherzig an, denn er wollte nicht nur die kleine Abby möglichst schnell hier herausbringen, sondern es lag ihm auch daran, das zwielichtige Gesindel hinter sich zu lassen, bevor die Kerle richtig begriffen, dass er ihnen entwischt war.
    Das Pferd schien seine Absichten zu begreifen. Aber ob dem nun so war oder nicht – jedenfalls zog es den Schlitten mit dem atemberaubenden Tempo einer Lokomotive hinter sich her über den festgetretenen Schnee der Landstraße.
    Als sie den größten Teil der Ebene hinter sich hatten, kamen sie zu einer kleinen Anhöhe, von der aus sie die restliche Strecke bis zum Fuß des Gebirges überblicken konnten. Sie hielten kurz an und suchten die vor ihnen liegende Steppenlandschaft mit den Augen ab. Abgesehen vom Atem der Stute und dem leisen Rascheln der Decken auf dem Schlitten war kein Laut zu hören. Trotz zwanzig Grad unter null wehte eine balsamweiche Brise. Erst nachdem sich Hardesty und Virginia ausgiebig vergewissert hatten, dass sich niemand in ihrer Nähe befand, blickten sie zum nächtlichen Himmel auf und sahen hoch oben so etwas wie blasse Blumen, die herabgeschwebt kamen. Vor dem Hintergrund der hellen Sterne erblühten sie rot und ebenmäßig wie gefiederte Helmbüsche oder Pilze, um ebenso schnell wie Sternschnuppen zu verblassen. Im Abstand von wenigen Sekunden leuchteten sie auf und verschwanden wieder, aber manchmal erschienen mehrere gleichzeitig oder zumindest in rascher

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