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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Untergang sahen. Inzwischen hatten Hunderte von kleinwüchsigen Männern den Schlitten umzingelt.
    Niemand sah den weißen Schweif am Himmel. Eben war er noch ein dünner, geschwungener Streifen gewesen, doch als er nun von Südosten her auf sie zukam, erstrahlte er heller als ein Komet. Es war, als versprühte er auf seinem Flug eine Million Diamanten, die kurz aufglühten und am Himmel eine weiße Rauchfahne hinterließen. Der Komet flog über die Stelle hinweg, wo der erbitterte Kampf tobte, und kehrte in einer steilen Abwärtskurve zurück. Aber es war kein Komet, der diesen leuchtenden Schweif hinter sich herzog, sondern ein weißes Pferd.
    Sein Anblick ließ die Short Tails vor Verblüffung erstarren. Dies nutzte der Hengst, um sich seinen Weg zum Schlitten zu bahnen. Wenn er sich auf die Hinterhand stellte, wurden seine vorderen Hufe zu wirbelnden Hackmessern, die im Schnee eine blutige Spur hinterließen. Wenn er auskeilte, wurden jene, die das Unglück hatten, getroffen zu werden, wie Artilleriegeschosse in die Luft katapultiert. Und wenn Athansor seinen Kopf, seinen Hals und sein Gebiss einsetzte, dann bewegte er sich so schnell, als gäbe es mehrere von ihm.
    Immer weiter rückte er vor, ein Wunder an scharfer, tödlicher Anmut. Er watete durch seine Feinde hindurch und wurde dabei immer schneller, bis er gleichzeitig rannte und kämpfte. Die Stute schloss sich ihm an. Hardesty ließ sein Gewehr sinken und ergriff die Zügel. Im Galopp ging es durch die stark gelichteten Reihen der Short Tails hindurch. Der weiße Hengst lief eineinhalb Längen voraus. So durchbrachen sie die Umzingelung und eilten den Bergen entgegen. Mühelos brachte Athansor sie bis zum Pass hinauf. Von dort oben blickten sie auf den Coheeries-See hinab, der sich in der Nacht verlor. Dieser Ort schien ihnen den Sternen zu nah, um kalt zu sein; es war einer jener stillen Aussichtspunkte, wo nicht mehr die Sinne des Menschen, sondern einzig der Geist zählt.
    Der weiße Hengst neigte seinen langen Hals bis zum schneebedeckten Boden hinab, dann reckte er sich zu seiner vollen Höhe. Er drehte ein paar Runden um den Schlitten und näherte sich der Stute. Er war doppelt so groß wie sie. Er senkte seinen großen Kopf zu ihr herab und berührte seitlich ihr Gesicht. Sie machte ein paar Schritte rückwärts. Da wandte er sich ihren Wunden zu. Er leckte sie ab, eine nach der anderen. Und eine nach der anderen wurden sie geheilt. Der weiße Hengst tänzelte ein wenig, blickte in die Höhe und fiel unvermittelt aus dem Stand in einen gestreckten Galopp.
    Ehe die Marrattas noch begriffen, was hier vorging, waren sie allein. Über dem Himmel zog sich ein weißes Band, das bereits zu verblassen begann. In der Luft hing ein leises pfeifendes Geräusch.
    Schon kündigte sich der Morgen an. Der Mond war untergegangen, und die Sterne wirkten ermattet. Hardesty ergriff die Zügel. Die Stute setzte sich in Bewegung und führte sie den Bergwäldern entgegen.
    *
    Betagte Stadträte mit Backenbärten, monomanische Bezirksvorstände, Parteifunktionäre, Exbürgermeister und Einpeitscher aus den Vorstädten – sie alle forderten einmütig, dass bei den öffentlichen Diskussionen vor den Wahlen ein oder zwei Themen zur Sprache gebracht werden sollten, die nichts mit der Heiligkeit des Winters und mit Theorien über Anmut und Ausgeglichenheit zu tun hatten. Da der Hermelinbürgermeister für politische Manöver ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl besaß und außerdem daran gewöhnt war, seinen Zuhörern genau das zu erzählen, was sie hören wollten, gelang es ihm schließlich, Praeger zur Teilnahme an einer Diskussionsreihe zu zwingen, die gemeinschaftlich von der Sun und dem Ghost gesponsort wurde. Keine der beiden Zeitungen unterstützte Praeger, denn Craig Binky hatte sich von ihm abgewendet, nachdem der Kandidat ihn in aller Öffentlichkeit unter anderem als »diesen langsamen, begriffsstutzigen Dussel, der den Ghost leitet« bezeichnet hatte, als »unsern allerliebsten Schwachkopf« und als »jenen Spitzbuben, dem niemand beikommt und der in einem Zeppelin namens Binkoped durch die Gegend fliegt«.
    Der Hermelinbürgermeister, das dickfellige alte Rhinozeros, war sich sicher, dass er diesen glattrasierten jungen Idealisten, diesen Möchtegernpatrizier, der sich mit all seinem blödsinnigen Gequatsche über den Winter eine solche Blöße gegeben hatte, in einem Streitgespräch zertrampeln würde. Mochte der Bursche anfänglich mit diesem Gerede sogar

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