Wintermaerchen
Erfolg gehabt haben – jetzt gierten die Wähler nach härterem Stoff. Der Hermelinbürgermeister konnte seinen Frontalangriff auf den Neuling kaum abwarten und brannte darauf, ihn zwischen den dreifachen Mühlsteinen seiner Erfahrung, seines Alters und seines Amtes zu zermalmen.
Das erste Streitgespräch sollte im Central Park stattfinden, denn Praeger weigerte sich, im Fernsehen aufzutreten; er hasste es und attackierte es bei jeder Gelegenheit. Da diese Missachtung des Fernsehens ein wichtiger Punkt in seinem Wahlprogramm war, erstaunte es niemand, dass sich die Sender auf die Seite des Hermelinbürgermeisters schlugen und kostenlos Werbespots für ihn einblendeten. Praegers Wahlkampagne wurde von ihnen vollkommen ignoriert, aber er duldete ohnehin keine Fernsehkameras in seiner Nähe. Er verdammte vielmehr die »elektronische Sklaverei« und appellierte eindringlich an seine Zuhörer, dem Primat und der Heiligkeit des gedruckten Wortes wieder zu voller Geltung zu verhelfen. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert unternahm jemand den Versuch, die Wahlen für ein öffentliches Amt ohne Hilfe dienstbarer Elektronen zu gewinnen. So kam es, dass bei der Debatte nur der Hermelinbürgermeister auf dem Bildschirm zu sehen war, ganz so, als ob er mit einem Phantom diskutierte. Nach zehn Minuten begann sich der Central Park langsam mit Leuten zu füllen, die ihr gemütliches elektronisches Heimkino im Stich gelassen hatten, um den Mann, der erstmals in der Geschichte den Mut aufgebracht hatte, dem bislang einflussreichsten Massenmedium aller Zeiten zu trotzen, mit eigenen Augen zu sehen. Praeger hatte klug gehandelt, als er auf dem Park als Veranstaltungsort bestand. Obwohl es ein kühler Abend war, sah er sich schließlich mehreren Millionen Menschen gegenüber, die er eindringlich beschwor, sie mögen ihre Fernsehgeräte zerschlagen. Für viele war dieses Ansinnen schockierend und fast unvorstellbar. Aber sie hielten trotz der Kälte stundenlang aus und wärmten sich, indem sie von einem Fuß auf den anderen traten. Ambulante Händler, die sich zwischen ihnen hindurchschlängelten, machten an diesem Abend mit warmen Getränken ein hübsches Geschäft.
»Wer ist schon dieser Mensch, der dauernd vom Winter redet und euch auffordert, eure sauer verdienten Fernsehgeräte wegzuwerfen?«, fragte der Bürgermeister höhnisch.
Asbury Gunwillow, der sich in der Menschenmenge befand, rief: »Praeger de Pinto! Praeger de Pinto!« Daraus wurde rasch ein Sprechchor, dem sich Millionen anschlossen. Der Bürgermeister sah sich gezwungen, die Taktik zu ändern.
»Offengestanden sitze ich selbst ziemlich selten vor dem Fernseher«, sagte er. »Ich schaue mir nur wirklich gute Sachen an, Kulturberichte und so weiter …«
»Was man sieht, ist völlig zweitrangig«, hielt Praeger ihm entgegen. »Wenn der Strom hypnotischer Elektronen erst anfängt, in euer Gehirn einzusickern, dann seid ihr so gut wie erledigt, dann hat euch der Teufel schon am Wickel. Wenn ihr nicht in allen Dingen des Lebens die Augen offenhaltet und selbst die Marschrichtung bestimmt, seid ihr geistig zum Tode verurteilt. Seht ihr, der menschliche Geist ist wie ein Muskel. Damit er geschmeidig und stark bleibt, muss er gefordert werden. Aber genau das vereitelt das Fernsehen. Davon abgesehen, mein lieber Minnie (so nannte Praeger manchmal den Hermelinbürgermeister), davon abgesehen, schauen Sie sich diese ganzen Literaturverfilmungen sowieso nur an, weil Sie das Lesen verlernt haben.«
»Was Sie da sagen, richtet sich nicht nur gegen mich als Person, Sir!«, protestierte der Hermelinbürgermeister. »Sie beleidigen die gesamte Wählerschaft!«
»Die Anzahl verstümmelter und elektronisch eingeweckter Gehirne steht hier nicht zur Frage, Herr Bürgermeister«, erwiderte Praeger. »Hier geht es vielmehr darum, dass die Sklaven möglicherweise den Wunsch nach Freiheit verspüren.«
»Sie nennen die Bürger unserer Stadt Sklaven?«
»Ja. Sie sind Sklaven jener, die ihnen augenzwinkernd sagen, was sie denken, was sie kaufen und mit wie viel Steppdecken sie sich nachts zudecken sollen.«
In die Defensive gedrängt, rief der Bürgermeister aus: »Das Fernsehen, Sir, ist der Versammlungsplatz, die Agora der Demokratie, der große Kommunikator!«
»Das stimmt, aber er kommuniziert nur in einer Richtung«, konterte Praeger. »Alle müssen sich seinen Geboten beugen, von denen nie ein einziges zur Diskussionsgestellt wird. Das Fernsehen beraubt die Menschen nicht
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