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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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weißt, was fahrendes Volk ist?«
    »Ich komme aus den Sümpfen.«
    Die beiden Mädchen blickten ihn verständnislos an. Während sie das Geld untereinander aufteilten, versuchten sie Peter klarzumachen, auf welche Weise sie sich durchs Leben schlugen: »Wir tanzen für die Leute, und wenn sie Gefallen an uns finden, geben sie uns ein bisschen Geld …«
    »Geld ist, was man dem Affen gibt, damit er einem nicht auf die Füße pinkelt«, sagt Peter Lake. Die beiden Mädchen blickten sich verstohlen an.
    »Sie geben uns Geld, und dann stibitzt ihnen Liza Jane die Börse«, erläuterte das kleinere der beiden Mädchen. »So verdienen wir unseren Lebensunterhalt.«
    »Warum tanzt ihr auch dann noch weiter, wenn ihr schon Geld erhalten habt?«
    »Keine Ahnung«, antwortete das größere der beiden Mädchen. »Aber warum nicht?«
    Das große Mädchen hieß Liza Jane, das kleine Dolly. Früher waren sie zu dritt gewesen, aber die dunkelhaarige Bosca war vor einiger Zeit gestorben.
    »Woran ist sie denn gestorben?«, fragte Peter Lake.
    »In der Badewanne«, antwortete Liza Jane. Mehr war von ihr nicht zu erfahren.
    Die beiden nahmen Peter als Ersatz für Bosca auf. Er sollte mit Dolly tanzen, während Liza Jane den Passanten ihre Geldbörsen stibitzte. Peter fragte die Mädchen, ob sie für ihn ein weiches Schlafplätzchen hätten, was sie bejahten. Es dauerte drei Stunden, bis sie dorthin gelangten. Sie mussten mehrere kleine Flüsse und fünf breite Ströme überqueren. Ihr Weg führte sie hundert gewundene Alleen entlang, über große Brücken und geschäftige Plätze, wo Feuerschlucker zu sehen waren und Fleisch an schmalen Schwertern gebraten wurde. Sie kamen auch an Dutzenden riesiger Portale vorbei, hinter denen verräucherte Fabrikhallen lagen. Der Lärm der Maschinen klang wie das Pochen eines riesigen Herzens. Peter ahmte singend die vielen Geräusche nach, die aus jenen eisenstarrenden Sälen an sein Ohr drangen: Bumm rata rata tschak zisch bumba zack tschik tschik baba um balaka balaka bumm! Ihm fiel auf, dass die Menschen in dieser Stadt nicht nur mit angriffslustig gesenktem Kopf herumliefen, sondern dass sie bei ihren Verrichtungen auch seltsam rhythmische Tänze aufführten: Ihre Körper bewegten sich auf und nieder, sie streckten die Arme aus, um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen, und sie bewegten auf aufreizende Weise ihre Hüften wie gefallsüchtige Frauenzimmer, obwohl viele von ihnen keine Frauen waren.
    Peter fragte die beiden Mädchen, ob hier Krieg herrsche oder ob irgendetwas Schreckliches passiert sei, denn anders konnte er sich die herrenlosen Armeen, den flackernden Feuerschein, die Rastlosigkeit und Unordnung nicht erklären. Die Mädchen blickten sich um und meinten nur, es sähe alles wie immer aus.
    Als sie schließlich in eine Straße kamen, die von einförmigen Wohnhäusern gesäumt war, war Peter schon so erschöpft, dass er sich einer Ohnmacht nahefühlte. Es stellte sich heraus, dass die Tanzmädchen in einem der Hinterhöfe wohnten. Dort gab es einen verwilderten Garten, der darauf wartete, vom Frühling neu belebt zu werden. Am Rand dieses von Unkraut überwucherten Hinterhofgartens stand ein kleiner Schuppen, der unterkellert war. Dort hausten die Mädchen in einem kleinen, finsteren Raum, der unter der Decke ein einziges Fenster hatte. Als Ofen diente ein Teerfass, in dem noch ein wenig Kohlenglut glimmte. An den Wänden baumelten allerlei getrocknetes Gemüse, ein Kochtopf und einige Küchenutensilien. Möbel gab es keine, sondern lediglich ein riesiges Bett, dessen Füße unterschiedlich hoch waren, sodass es leichte Schlagseite hatte. Auf dem Bett lagen zwischen zerwühlten Decken und Laken ein paar zerknautschte Kissen verstreut. Das Bettzeug war überraschend sauber. Dies also war das weiche Plätzchen, wo die beiden Mädchen schliefen!
    »Jetzt zündet Liza Jane die Tranfunzel an, und Dolly legt ein paar Holzscheite aufs Feuer«, sagte Dolly, die häufig von sich in der dritten Person sprach. »Es dauert ein Stündchen, bis das Gemüse gar ist. Dann können wir essen.« Peter zeigte den Mädchen den Dörrfisch und erklärte ihnen, wie man daraus eine Mahlzeit zubereiten konnte. Man brauchte den Fisch nur in schmale Streifen zu schneiden, sie miteinander verknoten und in kochendes Wasser werfen, damit sie noch schmackhafter wurden.
    Liza und Dolly wollten vor dem Essen ein wenig ausruhen, aber dazu kam es nicht, denn Peters Muschelbier schmeckte ihnen so gut, dass sie

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