Wintermaerchen
und er stellte sie nicht infrage. Er musste ruhen, überleben. Und wie schön war es, zu überleben! Da er gern allein war, nahm er seine Mahlzeiten nicht bei der Sun ein, sondern aß in einem Restaurant namens French Mill . Dort brachte ihm der Kellner jedes Mal eine Schiefertafel, auf der rund zehn verschiedene Gerichte verzeichnet waren. Peter sagte, was er wollte, und es wurde ihm ohne viel Aufhebens serviert. Das Essen war stets außerordentlich gut und billig und wurde von einem Glas fruchtigen Weines begleitet. Jeden Abend nach dem Essen begab sich Peter in eine öffentliche Badeanstalt, nicht ohne sich zuvor sorgfältig rasieren und seinen Bart stutzen zu lassen. Er schloss seine Sachen in einen Spind und nahm in einer der hundert, mit Marmor gefliesten Kabinen eine Hochdruckdusche. Danach kamen in wechselnder Folge das Dampfbad, der Eiswasserkübel, die Sauna, der Whirlpool und wieder die Dusche an die Reihe, bis er schließlich etwas benommen und sauber wie eine Babyperle ins Freie trat. Er freute sich nun auf ein oder zwei ruhige Stündchen im Schaukelstuhl vor dem Kamin und dann auf die Nacht, die er zwischen einem sauberen Laken und einem riesigen Federbett zu verbringen pflegte.
Das Einschlafen bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Zum einen ging er jeden Tag die zehn Meilen zur Sun und zurück zu Fuß, und zum anderen gehörte er nicht zu jenen Mechanikermeistern, die schwere Arbeit auf ihre schlaksigen Lehrlinge abwälzen. Wenn ein schweres Maschinenteil, ein Kolben oder eine Walze bewegt werden musste, dann legte sich Peter Lake genauso hart ins Zeug wie alle anderen.
Die körperliche Arbeit, die gute Luft auf seinen langen Spaziergängen, das frische Gemüse und das magere Fleisch in der French Mill , das tägliche Gläschen Wein, die Bäder und das allabendlich frisch bezogene Bett kräftigten ihn und hielten ihn gesund. Doch nie hätte sein Körper die Zerrüttung überwinden können, hätten sich nicht Geist und Seele auf so wundersame Weise erholt.
Peter Lake selbst schob diese erfreuliche Entwicklung ausschließlich auf die Waldesstille seines alten Zimmers, auf das Ticken der Uhr, die leise Beredsamkeit des Feuers, die vielen Stunden der Einsamkeit und auf die Ruhe, die in ihn eingezogen war, nachdem er während jenes unbeschreiblichen Traums durch alle Gräber dieser Welt gewirbelt war. Er versuchte, jeden Gedanken daran zu verdrängen, denn nichts war der neuen Heiterkeit und Gelassenheit seines Lebens in Chelsea abträglicher als die schreckliche Wahrheit: Er, Peter Lake, ein Meister der Maschinen und ein Bürger, der sich einbildete, endlich Ruhe und Frieden gefunden zu haben – er war in Wirklichkeit ein lebendes Totenregister. Er konnte sie trotz ihrer unüberschaubaren Menge aufzählen, jeden einzelnen, einen nach dem anderen, ohne Ausnahme.
*
Eines Abends saß Peter Lake wieder einmal ganz für sich in der French Mill und wartete auf ein kleines Steak mit besonders dünn geschnittenen Pommes frites, Salat und einem Glas Wein vom Fuß des Brenners. Wie es manchmal vor, nie jedoch nach der Wintersonnenwende geschieht, erzeugte das Dunkeln des frühen Abends eine fröhliche, verheißungsvolle Stimmung, und Peter Lake empfand die Lichter entlang der Hudson Street wie brennende Kerzen an einem Weihnachtsbaum.
Er lehnte sich zurück an die Wand und beobachtete die Menschen, die durch den ungewöhnlich kalten Novemberwind eilten. Bombardiert von Eiskristallen, den Vorboten eines Blizzards, strebte ein Zugführer der U-Bahn der Wärme des Tunnels entgegen. Eine teuer gekleidete Frau, die sich, ihrer Aufmachung nach zu schließen, nur selten aus den Regionen an der oberen East Side hervorwagte, kam vorbei, das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse verzogen. Wie schamlos vom Frost, sich einfach unter ihre Pelze zu schleichen! Beim Anblick ihrer Perlenkette zuckte Peter unwillkürlich zusammen. Er registrierte seine Reaktion aufmerksam, denn es war nicht das erste Mal.
Seit er beim Erwachen jene junge rothaarige Ärztin an seinem Bett erblickt hatte, machte er sich erstmals wieder Gedanken über Frauen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass er unter anderem vielleicht nur deshalb auf die Walz gegangen war, um die Frauen zu meiden. Und er konnte sich nicht daran erinnern, was ihn früher an sie gebunden hatte. Er wusste nur, dass er es nicht über sich brachte, blauäugige Frauen und junge Mädchen mit einem bestimmten Gesichtsschnitt anzusehen, jedenfalls nicht direkt. Und nun passierte es
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