Wintermaerchen
zu verstehen, dass sie seinen Appell verstanden hatte, und sie umfing ihn funkelnd wie ein Diamant.
Der weiße Hund aus Afghanistan
P eter Lake hatte das Gefühl, dass die heilenden Kräfte der Zeit endlich die Verwirrung seines Geistes besiegt hatten und dass er allmählich lernte, im Einklang mit den anderen Menschen zu leben. Nachdem der Mann, für den er in Five Points seine zwölf Stimmen abgegeben hatte, mit riesigem Vorsprung die Wahl gewonnen hatte, fühlte er sich sogar wie jemand, der bei der Verteilung der Macht ein Wörtchen mitzusprechen hat. Am Wahlabend war er jedenfalls über alle Maßen mit sich zufrieden, und es fiel ihm leicht, das knospende Selbstwertgefühl noch zu verstärken, indem er bei Fippo’s , dem besten Herrenausstatter von New York, ein paar feine Sachen erstand, die ihn nicht nur respektierlich, sondern sogar ausgesprochen gut aussehen ließen. Ein Haarschnitt, eine gründliche Rasur und das sorgfältige Stutzen des Schnäuzers förderten ein Gesicht zu Tage, von dem in den Zeiten des Wahns fast nur die schimmernden, verdrehten Augen zu sehen gewesen waren. Sein Gesicht war gealtert und hatte etwas von der Beherrschtheit eines Veteranen, der nicht gerne über den Krieg spricht, aber es war auch das Gesicht eines Familienvaters, eines guten Bürgers oder eines Geschäftsmannes mit dem Kopf eines Senators, dessen Ambitionen schon seit langem erkaltet waren – väterlich, verständnisvoll, ein Liebhaber guter Musik und der Dichtkunst, der, wie alle Männer seines Schlages, in seiner Seele ein großes, unergründliches Geheimnis bewahrte.
Am meisten betroffen machte ihn die Tatsache, dass sein Gesicht so freundlich aussah. Wie habe ich jemals die Zeit und Gelegenheit gefunden, ein freundlicher Mensch zu werden, fragte er sich. Er kam gar nicht auf den Gedanken, diese Eigenschaft mit Ereignissen der jüngsten Vergangenheit, etwa dem schussgleichen Flug durch viele Kellerwände hindurch, in Verbindung zu bringen. Allerdings zerbrach er sich darüber auch nicht allzu sehr den Kopf, sondern begann sehr bald, die ihm so ungewohnte neue Sanftheit in vollen Zügen auszukosten.
Zuallererst suchte er sich eine anständige Bleibe. Sein Lohn hatte sich zu einem hübschen Betrag angesammelt, sodass er sich ein bequemes Domizil leisten konnte. Er entschied sich für ein kleines Zimmer in einem alten Haus in Chelsea. Dort schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Abends, wenn Peter von der Arbeit heimkam, fühlte er sich jedes Mal, als sei er auf einen Bauernhof zurückgekehrt. Die Verzierungen aus Holz und Stuck an Kamin und Zimmerdecke, die die unerschütterliche Ruhe und Geduld besessen hatten, einhundertfünfzig Jahre lang am selben Platz auszuharren, waren ihm ein großer Trost. Abends saß er oft vor dem Feuer im Schaukelstuhl und lauschte dem Ticken der alten Uhr im Korridor, die, wie alle alten Uhren, beständig Nord-Dakota-Süd-Dakota-Nord-Dakota-Süd-Dakota vor sich hinzumurmeln schien.
Peter Lake entdeckte in dieser Zeit eine merkwürdige Empfindsamkeit an sich, für die er keine Erklärung fand: Sobald draußen auf der Straße der Hufschlag eines Pferdes erklang, schossen ihm Tränen in die Augen. Frühmorgens, wenn er noch im Bett lag, konnte es sogar passieren, dass er im Halbschlaf das klackernde Stakkato von hochhackigen Frauenschuhen, deren Trägerinnen zur Arbeit eilten, für den Hufschlag von Milchgäulen hielt. Vielleicht, so sagte er sich voller Hoffnung, ist das alles, was man braucht: eine Uhr, die Nord-Dakota-Süd-Dakota sagt, ein altmodisches Zimmer, ein Kaminfeuer, Schatten, ab und zu ein Pferd und einen Anzug, dessen Schnitt einen Anflug von Edwardian style hat. Vielleicht wird mir vergeben, dass ich mich nicht an das erinnere, woran ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann. Vielleicht war jene Zeit wirklich verloren, und vielleicht werde ich, wie so viele andere, die vorwärts- oder zurückgeschleudert worden sind, nachgeben, mich anpassen und ein ruhiger Bürger mit schwachen, unerklärlichen Erinnerungen werden.
Der Weg dorthin war leicht. Die kleinen Freuden des Alltags schenkten ihm ein Gefühl tiefer Zufriedenheit – und zwar nicht nur die geschwätzige Uhr, sondern auch der feine Klang des Klaviers, der in seiner Einbildung durch den Fußboden hindurch aus der Wohnung eines unter ihm wohnenden jungen Musikers zu ihm drang, in Wirklichkeit aber, wie Peter durchaus bewusst war, aus ihm selbst kam. Wie dem auch war – auf jeden Fall war die Musik schön,
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