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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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wusste damals noch nicht, dass es überall in der Stadt Orte gab, wo man nach einem Sturz nicht mehr auf die Beine kam. Dort gab es nur dunkle Träume und langsames Siechtum, da verendeten Kinder ohne Hoffnung auf Gnade und Erlösung.
    Peter nahm die Erinnerung an dieses Kind tief in sich auf, aber er fand sich nicht damit ab. Irgendwie müsste sich der Kreis doch nach vielen Abwegen schließen! Selbst die Verlorenen und Verdammten würden gewiss eines Tages erlöst, denn auch sie hatten ihren Platz in der Welt. Ja, so musste es sein.
    Als er wenig später wieder im Keller bei den beiden Mädchen war, sagte eine von ihnen zu ihm: »Dein Schwert lässt du besser hier, sonst hast du sofort die Polizei am Hals.«
    »Ich gebe mein Schwert nicht aus der Hand«, sagte Peter Lake. Ein echter Sumpfmann trennte sich von seiner Waffe nur beim Schwimmen und beim Beischlaf. »Nicht einmal für eine Menge Geld lasse ich es hier«, sagte er und freute sich über diesen wundervollen Geistesblitz.
    »Sehr witzig«, sagte Dolly. »Hoffentlich stellst du dich beim Klauen nicht genauso stur an.«
    Der Madison Square war genauso weit entfernt wie der Park, wo Peter die beiden Mädchen kennen gelernt hatte. Nachdem sie in einem Fährschiff und einem Zug gefahren waren und zwei Brücken sowie ein halbes Dutzend Tunnel hinter sich gelassen hatten, mussten sie noch stundenlang durch zahllose Straßen, Passagen, Alleen und Arkaden wandern, die vor lauter Lebendigkeit fast explodierten. Peter war schon müde, bevor die eigentliche Arbeit begonnen hatte, doch als er und die beiden Mädchen schließlich den herrlichen, von hohen Bauwerken umrahmten Platz erreichten, über den sich luftige Brücken spannten, begann er eine bunte Folge von Mond- und Muscheltänzen. Er führte auch die Nummer vor, in der er das sich im Wind wiegende Schilf nachahmte. Während Dolly um ihn herumtänzelte, mischte sich Liza Jane unter die Passanten und erleichterte ihnen mit geschickten Fingern die Taschen.
    Diese Liza Jane, übrigens eine echte Schönheit, hatte fürwahr einen guten Riecher! Als sie einen fetten Kerl sah, der sich durch die Tür eines Bankhauses auf die Straße zwängte, schlängelte sie sich flink und unauffällig an ihn heran. Es stellte sich heraus, dass seine prall gefüllte Börse 30 000 Dollar enthielt. Zitternd vor Aufregung veranlasste sie Peter, einen ausgelassenen Muscheltanz abzubrechen, und gab ihm ein Zeichen, ihr und Dolly zu einem stillen Winkel am Rande des Platzes zu folgen. Dort teilten Sie die Beute untereinander auf. Jeder erhielt genau 10 004,28 Dollar. Liza Jane meinte, die Polizei wäre gewiss bald hinter ihnen her, weil der fette Mann mit Sicherheit Anzeige erstatten würde. Deshalb wäre es das Klügste, sich jetzt zu trennen. Später am Abend konnten sie sich ja wieder hier auf dem Platz treffen. »Genau an dieser Stelle«, sagte Liza. »In der Zwischenzeit könnt ihr euer Geld zur Bank bringen.«
    »Was ist das?«, wollte Peter wissen.
    Liza zeigte auf ein großes Schild über dem Eingang eines Hauses und erklärte ihm, er brauche sein Geld nur in ein solches Haus zu bringen, dann sei es in Sicherheit. Peter nahm sich diesen Ratschlag zu Herzen. Als die Mädchen fort waren, betrat er das nächstbeste Bankhaus, legte die säuberlich gebündelten, nagelneuen Banknoten in einer Ecke der Schalterhalle auf den Boden und ging wieder hinaus. Er hatte die tröstliche Gewissheit, viel Geld zu haben. Fortan würde ihn kein Affe mehr anpinkeln. Das war ein für alle Mal erledigt. Zufrieden schlenderte Peter zu einem der gläsernen Paläste am Rand des Platzes hinüber. Dort wollte er sich die Zeit vertreiben, bis der Abend kam und die Arbeit weiterging.
    *
    Maschinen, überall Maschinen! Zuerst dachte Peter Lake, Tiere aus einer anderen Welt vor sich zu sehen, die einen seltsamen Tanz aufführten, ohne sich dabei vom Fleck zu rühren. Von Anfang an fand er diese metallische Unterwelt – oder Überwelt – grandios und unwiderstehlich hypnotisch. Licht flutete durch große Fenster, die Luft war erfüllt von den schwebenden Klängen eines unsichtbaren Orchesters, das sich genau dem Rhythmus der tanzenden Maschinen anpasste. Zischend und keuchend schoben sich Kolben auf und ab, Schwungräder surrten, hydraulisches Gestänge bewegte sich hin und her, Zahnräder griffen ineinander, Motoren summten und kleine weiße Dampfwolken entwichen zuweilen zischend aus Überdruckventilen. Manche der Maschinen waren monströse, haushohe Gebilde

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