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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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oder in den Himmel zu starren schien. Wollte er irgendetwas eingehender betrachten, dann musste er sein zottelhaariges Haupt hin- und herschütteln, wobei es immer wieder vorkam, dass er versehentlich einen Greis oder ein Kind zu Boden schlug. Den stärksten Männern hatte er auf diese Weise das Bewusstsein geraubt und viele Töpfe voll Austernsuppe in den Schmutz gekippt.
    Die Sumpfleute waren ohnehin nicht berühmt für häufiges Baden. In puncto Wasserscheu war Abysmillard jedoch bei weitem der Größte, weshalb er allein in einer etwas abseits gelegenen Hütte wohnen musste. (Und das bei Menschen, die mit Vorliebe lebende Aale verspeisten!) An der Tatsache, dass er immer teuflisch lüstern auf Mädchen war, änderte dies allerdings nichts; seine unerhört grotesken Annäherungsversuche verursachten viel Ärger.
    Abysmillards Zähne erinnerten an die Pfähle, die ein in ferne Einöden vorrückendes Expeditionsheer in den Boden rammt, um später den Weg zurück in freundlichere und menschenwürdigere Gegenden zu finden; sie zeigten nämlich in alle möglichen Richtungen. Offene Geschwüre fraßen sich über seinen ganzen Körper und lugten durch sein verfilztes, gutgedüngtes Haar, und manchmal ließ sich auch eines jener Lebewesen blicken, die in seinem Inneren wühlten. Er war mit Abstand der einsamste Mensch: Nicht einmal er selbst konnte seine eigene Präsenz ertragen. So sah man ihn denn oft durch das seichte Wasser galoppieren, wo er laut schreiend und mit den Armen fuchtelnd versuchte, die grauenhafte Hülle abzustreifen, die ihn umschloss und marterte.
    Man ging allgemein davon aus, dass Abysmillards Missbildungen, sein massiger Körperumfang und die ungesunde Hektik seiner Lebensführung ihn bald unter die Erde bringen würden. Aber während die Sumpfleute allmählich dahinstarben, lebte er weiter und weiter. Seine Stammesgenossen hatten geglaubt, es gäbe nichts, was ihn ans Leben band, aber da täuschten sie sich. Er liebte Schmetterlinge und glaubte insgeheim, dass er irgendwann wie eine Raupe sein monströses Aussehen verlieren und eine lichte, anmutige Gestalt annehmen würde, die jeder liebte. Die Jahre verstrichen, und er wartete unverdrossen auf seine Häutung. Sie war der einzige Lebenszweck, der ihn beseelte, die einzige Hoffnung, die ihm Kraft verlieh. Und sie kräftigte ihn in der Tat derart, dass er sich selbst bei weitem überlebte und sein Alter schließlich sogar jenen einen Schrecken einjagte, bei denen Langlebigkeit eine Alltäglichkeit war. Im Winter kurz vor der Wende zum dritten Jahrtausend hauste er schon seit mehreren Jahrzehnten ganz allein im Sumpfland. In gewisser Hinsicht stellte es eine glückliche Fügung dar, dass die anderen Sumpfmänner nicht mitansehen mussten, was aus ihrer Welt geworden war, und dass der einzige Überlebende von ihrer Art sich sein ganzes Leben lang darin geübt hatte, alles erdenkliche Elend zu überdauern und all seine Hoffnung auf eine ferne Zukunft zu richten.
    Harte Zeiten, Epochen des Wohlstands und kriegerische Auseinandersetzungen, kurz: der Verlauf der Geschichte hatten die Entwicklung des Hafens bestimmt und den Bewohnern des Sumpflandes ihre Lebensgrundlage entzogen. In Zeiten wirtschaftlicher Blüte expandierten der Hafen und die Fabriken über Schlamm und Schilf hinweg und verwandelten lebendigen Boden in Ödland, auf dem nicht mehr gedieh als auf nacktem Fels. In den Jahren wirtschaftlichen Niedergangs wurden im Rahmen staatlicher Arbeitsbeschaffungsprogramme ganze Kolonnen ins Sumpfland geschickt, um die Grenzbereiche zwischen Land und Wasser aufzuschütten. Da man dort weder zu Fuß gehen noch Boot fahren konnte, galt diese Gegend als Schandfleck am Körper der Nation. Im Krieg wurde das Neuland mit Werften, Verladebahnhöfen und Lagerhallen bebaut. Neue Verkehrswege, von denen der erste Pulaski Skyway hieß, wurden wie Speere durch das Herz des Sumpflandes getrieben. Flugboote und Hubschrauber zerstörten die tiefe Stille und Gelassenheit, die Gewässer waren vergiftet, ölig und schmutzig. Ein halbes Hundert Raffinerien und Chemiewerke ließen das Atmen zur Mutprobe werden. Der Wolkenwall zog sich in die Ferne zurück. Zwar wälzte er sich dann und wann noch heran und schleuderte die eine oder andere verwirrte Seele zu Boden oder schleifte sie auf dem Rückzug hinter sich her; im Allgemeinen jedoch zog er es wohl vor, draußen auf hoher See zu bleiben.
    Einige der Sumpfmänner waren am Rand des Marschlands von Polizisten erschossen

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