Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
die vor dem Ausgang seiner Erdhöhle zu Boden fielen. Dann stand die Sonne so niedrig, dass sie wie die Taschenlampe eines Jägers in den Bau hineinleuchtete, und es war, als wollte sie mit ihren wärmenden Strahlen auch tiefere Erdschichten erreichen. An manchen Tagen tobten oben Schneestürme und unterhielten ihn mit ihrem Geheul. Und jedes Mal, wenn ein tieffliegendes Flugzeug über das Sumpfland hinwegdröhnte, machte sich Abysmillard darauf gefasst, dass nun ein Engel kam, um ihn zu holen.
    Sein langsames Schrumpfen hätte andauern können, bis er so dünn wie ein Faden gewesen wäre, und vielleicht hätte ihn dann ein Wind bis nach Polynesien geblasen. Doch bevor es so weit kommen konnte, wurde er aus seinem Schlupfwinkel vertrieben.
    Die Feuerträume der Sumpfmänner aus alten Zeiten besagten, dass die letzten Tage zwar hart sein würden, dass man sich vor ihnen jedoch nicht zu fürchten brauchte. Gemäß dem Dreizehnten Gesang war es ein sicheres Anzeichen für das Nahen der letzten Tage, »wenn ein festgefügter Regenbogen, dessen aus schlagenden Lichtern bestehende Wölbung tausend lächelnde Stufen bilden, vom Eis emporschnellt und über den weißen Vorhang springt«. Abysmillard konnte mit eigenen Augen sehen, wie Arbeiter in Tag- und Nachtschichten ringsumher am Rand des Sumpflandes die Fundamente und Rampen dieses Regenbogens bauten. Zwar versperrten riesige Gerüste und Segeltuchbahnen den Blick auf die eigentlichen Baustellen, doch waren diese oft beleuchtet und schienen von innen heraus zu glühen. Abysmillard kannte den Dreizehnten Gesang und mutmaßte deshalb, dass auf diesen Rampen die mächtigen Lichtstrahlen erzeugt und zu einem einzigen prächtigen Bogen gebündelt werden sollten.
    Gern hätte er zufrieden und ruhig darauf gewartet, aber in diesem Winter war das Eis so dick, dass er bald nichts mehr zu essen hatte. Er mühte sich, mit seiner hölzernen Hacke ein Loch zu schlagen, ja er benützte dazu sogar sein Schwert. (Selten hatte diese Waffe zu einer solch unedlen Verrichtung herhalten müssen.) Abysmillard hatte in seinem ganzen Dasein noch nie einen so vollendet glatten Spiegel erblickt. Als er zum letzten Mal versucht hatte, ein Loch ins Eis zu brechen, waren auf den weitverstreuten Rampen und Plattformen die Hauptanschlüsse zusammengeschaltet worden und hatten die gefrorene Welt in der Tiefe mit einem Schlag in ein Netz aus vielfarbigen Straßen und Alleen zerteilt, das weitaus grandioser war als der Lichteffekt an der Oberfläche. Miteinander verwobene Lichtbündel entflammten wie Magnesiumpulver und wichen eine halbe Stunde lang nicht von Abysmillards Augen. Geblendet tappte er herum und suchte nach Hacke und Schwert.
    Nun blieb ihm nur noch eine Hoffnung: Er musste irgendwie den Rand des Eises erreichen. Dort, wo das offene Meer begann, konnte er vielleicht fischen oder wenigstens ein Loch ins Eis bohren, weil es dort nicht so dick war wie landeinwärts. Vor langen Zeiten, als schon einmal eine dicke Eisschicht die Küstengewässer bedeckt hatte, waren die Sumpfmänner, die damals noch zu Tausenden in Dutzenden von Dörfern lebten, bis zum Rand des Eisschelfs hinausgezogen. Viele von ihnen waren dabei zugrunde gegangen. Abysmillard erinnerte sich, dass manchmal acht Fuß hohe Wellen über das Eis gerollt waren und wie eine große Zunge viele Männer mit sich fort in den eiskalten Ozean gerissen hatten. Sie verschwanden zwischen auf und ab wippenden, rasiermesserscharfen Eisschollen und wurden rasch von ihnen zerstückelt. Wenn ihre Freunde herbeieilten, um ihnen zu helfen, fanden sie nur noch einen großen, hellroten Fleck, der matt durch die transparente Fläche unter ihren Füßen schimmerte.
    Nachts dort hinauszugehen war äußerst gefährlich. Es galt, bei starkem Wind die zu spitzen, zerklüfteten Barrieren aufgetürmten Schollen zu überklettern, und außerdem sandte die Dünung des Ozeans meilenweit vor- und zurückflutende Gezeitenströme über die glitschige Eisfläche, die in der Dunkelheit kaum rechtzeitig zu erkennen waren. Allein schon der Fußmarsch von fünfzehn Meilen bei zwanzig Grad unter null war für einen Menschen mit geschwächter Konstitution keine Kleinigkeit. Wie alle Sumpfmänner fühlte Abysmillard sich jedoch von Gefahr angezogen, und so brach er denn eines Nachts auf. Der Mond beleuchtete ihm den Weg, und der Frost war wie ein Racheengel mit einem Schwert aus Eis.
    Es war ihm nur halb bewusst, dass er endlich zu sich selbst gefunden hatte. In seinen

Weitere Kostenlose Bücher