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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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er die Avenuen auf und ab. Er ließ sich von der Masse in große Kaufhäuser mitreißen und wieder hinausspülen, der Strom trug ihn hinab in die Schächte der U-Bahn, wo er ein oder zwei Stationen mitfuhr und wieder auf die Straße geschoben wurde. Dann hielt ihn eine Straßenkreuzung gefangen, als sei sie ein wilder Strudel. Immer wieder, sicherlich hundert Mal, überquerte er die Straße. Ermattet, geschlagen und wie in einem Fieberwahn wurde er von Millionen Menschen ziellos herumgestoßen, die durch die Straßen hasteten, als ginge es um ihr Leben.
    Nach Büroschluss um fünf färbte ein Sturzbach aus Gabardine und Wolle die Straßen grau und blau. Alle hatten es eilig. An manchen Stellen stauten sich die Wellen von Büroangestellten und Sekretärinnen zu Dreier- oder Viererreihen auf. Das Geräusch fließenden Wassers oder eines Steppenbrandes, der vom Wind vorwärtsgepeitscht wird, erfüllte die Luft. Um Viertel nach fünf herrschte in den Straßen von Manhattan ein Gedränge wie in den Gängen eines Theaters, das in Flammen steht. Wie der Niagara am Hufeisenfall ergoss sich schließlich eine Sturzflut rastloser Menschen in Regenmänteln und mit verbissenen Gesichtern in die Grand Central Station und schwemmte Hardesty mit sich. Er hatte das Glück, nur am Rand des Stroms mitzudriften, und es gelang ihm, sich auf einem Balkon in Sicherheit zu bringen. Von dort aus konnte er die Halle überblicken. Hauptsächlich wegen seiner übermächtigen Angst, mit dem Fünf-Uhr-zwanzig-Zug nach Hartsdale fahren zu müssen, lehnte er sich an eine Marmorbalustrade. Seine Hände umklammerten das Geländer, und er ruhte sich eine Stunde lang aus, bis die Flut verebbte und er nicht mehr fror.
    Abgesehen von dem schmalen Strom der Pendler, die immer noch durch die Türen und die Treppe hinunter in die Halle eilten, war die Galerie über der Vanderbilt Avenue fast menschenleer. In dem gewaltigen Gewimmel zeigten sich allmählich überall dort, wo sich auf dem karamellfarbigen Marmor leere Inseln gebildet hatten, kahle Stellen in dem Teppich, der seit 1912 aus dem Kommen und Gehen zahlloser Menschen geknüpft worden war. Niemand dort unten blickte jemals auf. Das Dachgewölbe war schon seit so langer Zeit dunkel und umwölkt, dass man es vergessen hatte. Für die meisten Menschen war es ohnehin zu hoch, als dass sie sich darüber den Kopf zerbrochen hätten. Hardesty aber legte jetzt langsam den Kopf in den Nacken, bis er es in seiner Gesamtheit überblicken konnte.
    Da waren die Sterne! Sie schienen in sattem Gelb vor einem tiefgrünen Hintergrund. Seit wann? Sie sollten doch für alle Zeiten erloschen sein! Man nahm an, sie seien einer nach dem anderen ausgebrannt und würden nie wieder leuchten. Außerdem waren sie zu hoch angebracht, um ausgewechselt zu werden. Niemand hatte es versucht, und schließlich waren die Sterne ein für alle Mal vergessen worden. Aber nun waren sie wieder da. Nicht ein einziger fehlte.
    »Sehen Sie doch!«, forderte Hardesty eine junge Frau auf, die den weißen Kittel einer Zahnarztassistentin trug. »Wie die Sterne leuchten!«
    »Was für Sterne?«, fragte sie, ohne aufzusehen, und eilte zum Bahnsteig, um ihren gewohnten Zug nicht zu verpassen.
    »Die Sterne da oben«, sagte Hardesty zu sich selbst und starrte in den grünen Himmel hinauf.
    Als er seine Augen über das hohe Gewölbe wandern ließ, sah er, dass sich in der Mitte etwas bewegte. Es schien, als habe ein Himmelsbeben einen Teil des Firmaments aus seiner Verankerung gerissen. Erst glaubte er, Opfer einer optischen Täuschung zu sein. Aber tatsächlich tat sich ein Spalt auf. Er verschwand wieder, erschien jedoch ein zweites Mal und zitterte, als versuchte jemand, eine schwere Tür zu öffnen. Plötzlich wurde in der Decke ein dunkles Viereck sichtbar. Hardesty rang nach Luft. Die Tür konnte sich nicht von selbst geöffnet haben.
    Obwohl niemand zu sehen war, wartete Hardesty geduldig auf eine Erscheinung, und seine Geduld wurde schließlich belohnt, als hoch oben aus den Schatten ein Gesicht auftauchte, das unverwandt auf die eiligen Armeen in Gabardine und Wolle hinabblickte.

Für die Soldaten und Matrosen von Chelsea
    F ür einen hochbetagten Menschen sind Augenblicke großer Energie und geistiger Klarheit wie nasse Inseln in einem trockenen Meer. Wenn einen am Stock gehenden Greis heftige Wut packt oder wenn er von plötzlicher Freude überkommen wird, dann mag ihm klar werden, dass seiner Unwissenheit im Verlauf der vielen Jahre nur

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