Wintermaerchen
die Undurchdringlichkeit der Scheibe über seinem Kopf zu bezwingen, nahm er schließlich all seine Kräfte zusammen. Wie ein Geschoss stieg er auf – und wurde zurückgeschlagen wie eine Fliege.
Mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Fingern fiel er hundert Fuß tief. Auch wenn er sich wie eine Katze in der Luft hätte drehen können, um so zu landen, wie er es sich wünschte – es hätte ihm nichts genutzt. Die hundert Fuß waren eine Realität, daran gab es nichts zu rütteln. Während seines Sturzes aber bemerkte er, dass sanfte Pendelschwünge ihn hin- und herwiegten und die Fallgeschwindigkeit nur langsam war. Die Luft, die ihn umgab, schlug wie mit tausend unsichtbaren Schwingen, dämpfte den Sturz und setzte Hardesty so sanft auf, dass er einen oder zwei Augenblicke lang über der Gummimatte schwebte.
Er öffnete die Augen. Einige Männer in Trainingsanzügen hielten ihn an den Armen fest.
»Sind Sie einer von uns?«, fragten sie.
»Und was sind Sie ?«, entgegnete Hardesty. Dann sah er den Ausdruck auf ihren Gesichtern. »Sie müssen Bankiers und Börsenmakler sein.«
»Sind Sie hier Mitglied?«
»Das steht doch alles in Ihren Zahlen«, sagte Hardesty. »Wenn Sie sie nur richtig lesen würden.«
»Er muss sich von der Straße hereingeschlichen haben«, sagte einer der Männer. »Einen Augenblick lang dachte ich, er sei Klubmitglied und habe einen Unfall gehabt.«
Sie hoben ihn auf und trugen ihn in einer Art unsichtbaren Sänfte hinaus. »Ich bin geflogen wie ein Schmetterling«, erklärte Hardesty. »Als ich das Feuer erreichte und zurückstürzte, dachte ich, ich würde auf dem Boden aufschlagen, aber ich bin geflogen wie ein Schmetterling.«
Sie kamen an der Uhr in der Eingangshalle vorbei, und Hardesty sah, dass die Zeiger auf elf standen. Mit jener Mischung aus Ehrerbietung und Verachtung, die man Verrückten entgegenbringt, setzten sie ihn auf die Straße.
»Da war noch etwas«, sagte er.
»Und das wäre?«, antwortete einer von ihnen, während sie schon wieder die Stufen hinaufstiegen.
»Eure Turnhalle war randvoll mit Engeln.«
Sie hörten ihn nicht mehr.
*
Keinen Cent in den Taschen und seit Tagen schon ohne einen Bissen im Magen, begann Hardesty in der Dezemberkälte durch Manhattan zu irren. Er hatte Abby und damit auch seinem eigenen Vater gegenüber versagt. Der Hochmut, der ihn verleitet hatte zu glauben, er habe die Kraft, dem Himmel zu trotzen, erfüllte ihn jetzt mit Abscheu und Furcht.
Er erkannte die Herrlichkeit in den Gesichtern der Menschen, die in den Straßen zu Tausenden an ihm vorbeieilten. Was immer es war, das sie zu mehr machte als zu bloßen Wesen aus Fleisch und Knochen – es begegnete ihm in ihren Augen, in ihren geröteten Wangen und in ihren Mienen, die Hoffnung, Entschlossenheit oder Zorn ausdrückten, denn das Leben in diesen Gesichtern reichte weit über die Grenzen des Stoffes hinaus, in den es sich verirrt hatte. Und dennoch: Sollte er versuchen, danach zu greifen, so würde er nur die Mantelaufschläge eines verschreckten Passanten in den Händen halten. Rings um ihn her leuchtete das Licht, nach dem er suchte, aber er konnte es nicht festhalten.
Er dachte an den kleinen Sarg, nicht größer als das Verkaufsmodell eines Bestattungsinstitutes, in dem man seine Tochter beerdigen würde. Aber dann durchpulste ihn wieder das geschäftige Treiben auf den Straßen, und aufs Neue glaubte er, Abby retten zu können, wenn es ihm gelänge, die Kraft zu verstehen, die in den vielen lebendigen Szenen der Stadt wirkte: in dem gequälten Gesicht eines Jungen unter einer Kapuze, der einen Kleiderständer durch die verschneiten Straßen schob; in dem Schneider, der sich in der Kürschnerstraße über seine Maschine gebeugt ins Paradies der Schneider nähte; in der Kolonne von Straßenarbeitern, die mit dem geballten Einsatz von Presslufthämmern über den Asphalt herfielen. Es gab etwas, das all diese Szenen miteinander verknüpfte und sie auf einem gemeinsamen Kurs vorantrieb. Die leeren Schächte zwischen den steil aufstrebenden Häuserfluchten bargen das Geheimnis, das unsichtbar wie eine Säule aus reiner Luft auf der Stadt ruhte. Und dennoch: Wenn er seine Faust ballte und das Geheimnis mit Gewalt lüften wollte, entzog es sich ihm. Vernichtend geschlagen wurde er von der Menge aufgesogen; er fühlte sich schwach und benommen und hatte der Menschenflut in den vorweihnachtlichen Straßen nichts mehr entgegenzusetzen.
Wie ein Stück Holz in der Brandung trieb
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