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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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schwenkte nach links und fuhr hinunter zum Fluss. »Woher wissen Sie das?«
    »Ich mache diese Fahrt schon seit fast hundert Jahren. Wenn man erst zwölf Winter erlebt hat, kommt einem alles völlig chaotisch vor. Aber nach hundert Wintern erkennt man allmählich, wie sich alles wiederholt und überschneidet. Ich weiß immer genau, wie das Wetter sein wird. Das ist einfach. Und ich kenne das Eis. Das ist genauso einfach.«
    »Und wie steht es mit den Beziehungen der Menschen untereinander?«
    »Haben Sie damit Probleme?«
    »Nein, ich frage nur aus Neugierde.«
    Eine Weile herrschte Stille. Dann sagte Harry Penn: »Damit ist es nicht so einfach.«
    »Und Geschichte?«
    »Die Geschichte ist sehr kompliziert. Eine fast unbegrenzte Anzahl von Wellen wirkt in einer schier endlosen Zahl von Konstellationen aufeinander ein. Sicherlich ist auch Ihnen aufgefallen, dass sich seit kurzem eine Entwicklung abzeichnet, die mit Macht auf eine Angleichung drängt. Viele verschiedene Wellen konvergieren. Ich glaube jedoch nicht, dass sie sich alle bis zum Jahr zweitausend vereinigt haben werden, es sei denn, es tritt noch irgendein katastrophales Ereignis ein.«
    »Und was dann?«, fragte Praeger, denn auch er machte sich über diese Dinge seine Gedanken. Vor seinem inneren Auge hatte er gesehen, wie die Stadt in einem erschütternden, lautlosen Sturz in bodenlose Tiefe taumelte.
    »Dann werden wir weitersehen«, erwiderte Harry Penn. Die Kufen des Schlittens prallten so hart auf das Eis, dass es einen feinen, eine halbe Meile langen Riss erhielt.
    Nachdem der Dreispänner Spuyten Duyvil hinter sich gebracht hatte, war die Fahrt nach Norden frei. Sie reisten so schnell, dass die Männer von der Küstenwacht in den Städten entlang des Flusses in ihren Logbüchern lediglich notieren konnten, ein dunkler Schatten sei über das Eis gehuscht und verschwunden, bevor sie feststellen konnten, was es war. Praeger konnte nicht wissen, dass die Städte auf den Hügeln, die im Dunkeln wie Laternen auf den Felsen leuchteten, einer anderen Zeit angehörten. Und Harry Penn sagte es ihm nicht, denn da die nahe Zukunft so entscheidende Ereignisse versprach, wollte er nicht, dass Praeger durch das Wunder einer lebendig gewordenen Vergangenheit verführt wurde.
    Sie passierten die Städte und wandten sich, den goldenen Laternenschein hinter sich lassend, nordwärts den Bergen zu, hinter denen der Coheeries-See lag.
    Am Abend des folgenden Tages erreichten sie den See. Sie waren erschöpft, und ihre Kehlen ausgetrocknet. Im Gegensatz zu den Dörfern und Städten am Hudson waren alle Siedlungen an den Ufern des Sees dunkel. Harry Penn stand aufrecht im Schlitten und suchte mit den Augen die Gestade ab. »Sie waren nie dunkel«, sagte er. »Irgend etwas stimmt dort nicht.«
    Auf der Straße, die über das Plateau zum Coheeries-See führte, war seit dem letzten Schneefall niemand mehr gefahren. Gegen den grandiosen, sternenübersäten Himmelsvorhang zeichneten sich die Umrisse des kleinen Städtchens ab. Der Ort lag in völliger Finsternis. Langsam fuhren sie hinein und rumpelten mit dem Schlitten mitten auf der Straße über etwas hinweg, das aussah wie ein dicker Balken. Es war aber kein Balken – es war Daythril Moobcot.
    Überall sahen sie nur Tote. Sie waren in Hauseingängen hingestreckt, und sie hingen über Gartenzäune gekrümmt, steifgefroren, wie erlegtes Wild, das in der Sonne trocknet. Neben den Leichen lagen Gewehre und Schrotflinten. Hier musste ein schrecklicher Kampf stattgefunden haben. Auf der Straße verstreut waren Möbelstücke und kleine Gegenstände. Sie bewiesen, dass die Häuser ausgeräumt und geplündert worden waren. Die offenstehenden Türen schwangen unter heftigen Windböen hin und her, oder sie schlugen immer wieder knallend wie Pistolenschüsse zu.
    »Fast hätte ich es geahnt«, sagte Harry Penn zu Praeger, »aber ich konnte nicht glauben, dass es wirklich so kommen würde.« Praeger brachte kein Wort heraus. »Aber wenn es denn geschehen musste, so sei es«, fuhr Harry Penn fort. »Sie sind alle tot. Jetzt ist es vorüber. Dies bedeutet, dass hundert Epochen schließlich zu Ende gegangen sind. Fahren Sie hier entlang.«
    Sie fuhren am Aussichtsturm vorbei und auf den zugefrorenen See hinaus. Der Schlitten wurde wieder schneller. Ihr Ziel war das Haus der Penns, das auf einer Insel stand, inmitten eines Labyrinths anderer Inseln und Landzungen am gegenüberliegenden Ufer. »Etwas nach links!« oder: »Eine Idee weiter

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