Wintermaerchen
Erfahrungen und Erklärungen hinzugefügt worden sind und dass er, mag er in seinem langen Leben noch so viel gelernt haben, nicht so weit schauen kann wie damals, als er erst sieben Jahre alt war. Harry Penn erlebte oft solche Augenblicke, in denen er wie elektrisiert war von dem Gefühl, etwas zu lernen, das er schon einmal gewusst hatte, als er noch nicht für jede Erkenntnis einen Preis bezahlen musste.
Er war aufgewachsen mit der Jahrtausendwende vor Augen. Jetzt wünschte er sich, dass Jackson Meads Regenbogenbrücke so lang und hoch wurde, wie man es sich nur vorstellen konnte. Mehr noch: wie eine Lanze sollte sie den Wolkenwall durchbrechen! Damit dies geschehen konnte, das wusste er, mussten unten auf der Erde alle Voraussetzungen mit einer an Unwahrscheinlichkeit grenzenden Vollkommenheit erfüllt werden. Keine Einrichtung der Menschen konnte gewährleisten, dass die Dinge in die richtige Beziehung zueinander gebracht wurden, dass Auseinanderklaffendes zusammengefügt und dass die vollendete, erhabene Gerechtigkeit hergestellt wurde, ohne die alles vergebens wäre. Und dennoch musste alles zur Stelle sein, jeder musste sich flink auf der erleuchteten Bühne bewegen, genau wie es seine Rolle verlangte. Harry Penn war überzeugt, dass er seine Lebensaufgabe noch nicht erfüllt hatte, und das betrübte ihn. Es genügte nicht, einfach nur alt zu werden. Er sehnte sich nach Wundern. Er wünschte sich Leben, wo es kein Leben gab, er wollte, dass die Zeit aufgehoben würde und die Welt in goldenem Glanz erstrahlte – und sei es nur für einen einzigen, wunderbaren Augenblick. Er wollte die riesigen weißen Rauchpilze, die die Form festlicher Federbüsche auf den Köpfen von Kutschpferden haben, über der Stadt sehen. Sein Vater hatte ihm versprochen, dass sie dereinst aufsteigen würden, um das goldene Zeitalter anzukünden.
So vertiefte er sich denn sehnsüchtig in seine Bücher und Enzyklopädien, aber vergebens. Er rief sich so viel wie möglich von dem, was er gesehen und erlebt hatte, ins Gedächtnis zurück. Mit wachen Sinnen verfolgte er die Architektur des Geistes mit ihrem periodisch wiederkehrenden allegorischen Niedergang und anschließendem Neubeginn. Oft füllte er daheim die riesige Schieferwanne mit Wasser und sprang hinein, einfach um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Aber sie schweiften nie frei genug, um ihn innerlich ganz auf die rasch herannahende Jahrtausendwende vorzubereiten.
Eines Abends wurde Jessicas Vorstellung abgesagt, weil ungewöhnlich bittere Kälte herrschte. Alles zog sich bei diesen tiefen Temperaturen zusammen, sodass überall in Manhattan die Geräusche reißender Stahltrossen und berstenden Mauerwerks erklangen – Peitschenhiebe, die der Winter hier und dort als Antwort auf den Blitz und den Donner des Sommers austeilte. Durch die vom Widerhall dieser kleinen Detonationen erschütterten Straßen fuhr Jessica in einem Schlitten vom Theater zum Haus ihres Vaters. Dort machte sie ein wenig Lammfleisch mit Erbsen heiß, und sie aßen zusammen vor dem Kamin. Da sie Praeger erst später erwarteten, waren sie allein. Christiana war bei Asbury, und Boonya war zu ihrer Schwester nach Malto Downs gefahren. Nachdem Jessica den Tisch abgeräumt und das Geschirr gespült hatte, kam sie mit zwei Tassen schwarzem Tee und einer Blechdose voll Buttergebäck zurück, auf der ein schottischer Hochland-Füsilier im Black-Watch-Kilt abgebildet war. Die Flammen, die im Kamin harziges Kiefern- und knochentrockenes Hickoryholz verzehrten, boten den Anblick eines kleinen Waterloo mit vorwärtsstürmenden roten Schlachtreihen und dem Mündungsfeuer winzig kleiner Gewehre.
Eine Weile blieb Harry Penn noch in Gedanken versunken, doch dann holten der Tee und die wärmenden Flammen ihn zurück. »Was geschieht«, fragte er Jessica, »wenn du deinen Text vergisst?«
»Ich vergesse ihn nicht.«
»Nie?«
»Doch, aber nur sehr selten. Weißt du, ich lerne ja meinen Part, um die Person zu werden , die ich auf der Bühne darstellen soll. Sobald ich in ihre Haut geschlüpft bin, kann ich den Text nicht mehr vergessen. Das wäre undenkbar.«
»Du meinst, das Auswendiglernen von Rollen hat sehr wenig mit dem Gedächtnis zu tun?«
»Genau. Nur schlechte Schauspieler lernen einen Text auswendig. Gute Schauspieler schreiben ihn während der Aufführung ständig neu.«
»Obwohl er vom Dichter längst geschrieben worden ist?«
Sie nickte mit dem Kopf.
»Ist das nicht Anmaßung?«
»Ein Autor hat
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