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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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dafür Verständnis.«
    »Du gerätst also in eine Art Trance?«
    »Ja.«
    »Nehmen wir an, ein Stück ist geschrieben worden, und für dich ist es noch ganz neu. Wenn du deinen Part zum ersten Mal liest, dann gehört der Text genauso dir wie dem Verfasser. Wie kannst du das erklären?«
    »Ich kann dazu nichts sagen, aber eines ist sicher: Gerade dieser Sachverhalt unterscheidet die guten Schauspieler von den schlechten.«
    »Nehmen wir einmal an«, sagte Harry Penn, während er unverwandt auf den Deckel der Keksdose starrte, »du seiest nicht ganz in Form, und du hättest am Ende eines langen, schwierigen Stückes deinen Text vergessen. Was würdest du tun?«
    »Wahrscheinlich hätte ich gar keine Zeit, um mir etwas auszudenken. Ich würde das sagen, was mir gerade einfällt. Es wäre wie ein Geschenk, und ich würde den improvisierten Text auch wie ein Geschenk hinnehmen, allerdings als ein Geschenk aus einer anderen Quelle.«
    Es klopfte laut an der Tür. »Das ist Praeger«, sagte Harry Penn.
    »Der Bürgermeister«, korrigierte Jessica stolz.
    »Das macht nicht den geringsten Unterschied«, meinte Harry Penn. »Er ist ein feiner Kerl. Lass ihn herein, bevor er erfriert. Weißt du, ein paar Jahre vor meiner Geburt, da ist in Newton Creek der Kranbeerenbürgermeister erfroren.«
    Als Jessica mit Praeger in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurückkehrte, stand jener vor dem Kamin und hielt den Deckel der Keksdose in der Hand. Er weinte.
    »Was hast du?«, fragte Jessica.
    »Es ist der Hochland-Füsilier«, antwortete er. »Diese Dose war jahrelang in meiner allernächsten Umgebung, aber ich habe mir nie sein Gesicht aus der Nähe angesehen. Jetzt sehe ich es.«
    »Was sehen Sie?«, fragte Praeger.
    »Erinnern Sie sich an dieses menschliche Wrack, das damals bei Petipas auftauchte?«
    »Ja.«
    »Sein Gesicht sah mehr oder weniger so aus wie dieses, nur dass es nicht sauber und rasiert war.«
    Praeger warf einen Blick auf die Dose. »Ich weiß nicht recht«, meinte er. »Ich erinnere mich nicht mehr gut genug an ihn.«
    »Sie erinnern sich nicht mehr genau, weil Sie ihn vorher noch nie gesehen hatten.«
    »Sie denn?«
    »Ja.«
    »Wann?«
    »Als Junge.« Harry Penn legte den Dosendeckel mit dem Füsilier auf den Kaminsims und trat zurück. Dann wandte er sich Praeger zu, dem Bürgermeister der Stadt. Er befahl ihm, in den Stall zu gehen und die drei besten Pferde vor den schnellsten Schlitten zu spannen.
    »Ich will, dass wir zusammen nach Norden fahren.«
    »Zum Coheeries-See?«, fragte Jessica.
    »Ja«, antwortete ihr Vater lächelnd. »Endlich habe ich meinen Platz in dieser Welt gefunden.«
    Praeger ging hinaus. Als Harry Penn draußen im Hof das flackernde Licht einer Stall-Laterne sah, drehte er sich zu seiner Tochter um und verkündete, ein Wunder sei geschehen, gerade zur rechten Zeit.
    »Was für ein Wunder?«, fragte sie.
    »Peter Lake«, war die Antwort.
    *
    Harry Penn war der einzige Mensch in New York, der dem Bürgermeister befehlen konnte, für ihn den Schlitten anzuspannen, aber darüber machte er sich keine Gedanken. Schließlich hatte Praeger für ihn gearbeitet und war mehr als zehn Jahre lang de facto sein Schwiegersohn gewesen. Außerdem darf sich ein rüstiger, hundertjähriger Greis über solche Formalitäten und Konventionen hinwegsetzen. Er muss sich nicht einmal vor Staatsoberhäuptern und Königen verneigen, denn sofern jene etwas taugen, stehen sie hoch über diesen Dingen und denken nur noch in geschichtlichen Kategorien. Und ein Hundertjähriger ist Geschichte.
    Die drei Pferde, die Praeger vor den Rennschlitten spannte, waren kaum zu halten. Im Handumdrehen war der Riverside Drive erreicht, und die Fahrt ging wie im Flug nach Norden.
    »Dort hinunter und an der 125. Straße hinauf auf den Fluss!«, wies Harry Penn den Bürgermeister an.
    »Wird der Fluss denn auch bei Spuyten Duyvil ganz zugefroren sein?«, fragte Praeger besorgt. »Die Strudel selbst frieren ja niemals zu, und außerdem ist dort die Fahrrinne.«
    »Keine Sorge. In einem Winter wie diesem gibt es immer eine feste Eisbrücke zwischen Spuyten Duyvil und der Fahrrinne«, stellte Harry Penn fest und blickte geradeaus. »Es geht in einem leichten Bogen nach Westen und danach wieder nach Osten. Dann steigt das Eis ein wenig an, wie eine überfrorene Wiese. Später ist die Bahn frei bis zur Abzweigung. Dort können wir fahren wie der Teufel.«
    Praeger ließ die Zügel laut auf die Rücken der Pferde klatschen. Der Dreispänner

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