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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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nach rechts!« war das Einzige, was Harry Penn ab und zu sagte, um Praeger zu führen, und seine Stimme zitterte dabei. Sie umfuhren dicht mit Kiefern bewachsene Felseninseln, Orte, die schon vor langer Zeit den Füchsen überlassen worden waren. Schließlich gelangten sie zu einem riesigen Haus, das plötzlich hinter einer sanften weißen Kurve vor ihnen in der Dunkelheit auftauchte. Es war unversehrt.
    »Immerhin ist ihnen dieser Ort verborgen geblieben«, sagte Praeger.
    »Das spielt nun auch keine große Rolle mehr, wie Sie gleich sehen werden. Den Gegenstand, auf den es ankommt, hätten sie nicht mitgenommen, und wenn das Haus beschädigt worden wäre – nun ja, auf ein bisschen Schaden mehr oder weniger kommt es ohnehin bald nicht mehr an.«
    Sie fuhren zuerst zur Scheune, wo Harry Penn einen ganzen Sack Hafer vor den Pferden auf den Boden schüttete. Er war sehr erregt, fast so, als würde der längst entschiedene Kampf in der kleinen Stadt noch immer andauern. »Nehmen Sie die mit!«, befahl er Praeger und deutete auf zwei oder drei Reisigbesen, die weggeworfen worden waren, weil sie mit Pech verklebt waren. Nachdem sich die Männer durch den hüfttiefen Schnee gekämpft hatten, der die Insel bedeckte, erreichten sie die Eingangshalle des Hauses, eine riesige überdachte Veranda, mehr als hundert Fuß lang und fünfundzwanzig Fuß breit. Die Haustür war so solide und unerschütterlich wie eh und je.
    »Wie würden Sie versuchen, dort hineinzukommen?«, fragt Harry Penn und deutete mit dem Kopf auf die Tür.
    »Mit einem Schlüssel«, antwortete Praeger.
    Harry Penn lachte. »Sehen Sie sich das Schlüsselloch an! Es ist nur eine Attrappe. Mein Vater war besessen von dem Gedanken an Einbrecher, und er machte seine Spielchen mit ihnen. Damals war der Beruf des Einbrechers viel angesehener als heute. Es war so etwas wie ein Schachspiel. Mein Vater gab viel Zeit und Geld aus, um Diebe zu überlisten. Vermutlich würde ein moderner Einbrecher einfach eines der Fenster einschlagen, aber damals hatten solche Leute ein Berufsethos mit festen Regeln, an die sie sich hielten. Schauen Sie!« Er legte beide Hände an den Türknauf und bewegte ihn wie einen Hebel nach einer zehnstelligen Codezahl hin und her, bis sich die Tür, von Gegengewichten gezogen, schließlich von selbst öffnete.
    Praeger war begeistert. »Das gefällt Ihnen, nicht wahr?«, fragte Harry Penn. »Es freut mich, dass Sie es gesehen haben, denn dieser Mechanismus ist heute zum letzten Mal in Bewegung gesetzt worden.« Er verschwand im dunklen Innern des Hauses, und Praeger folgte ihm nach.
    Harry Penn zog ein Feuerzeug aus der Tasche und fuhr mit der bleistiftspitzen Flamme an den mitgebrachten Reisigbesen entlang. Sofort schlugen große gelbe Flammen empor. Praeger meinte, es sei ein Glück, dass die Zimmerdecken so hoch seien, denn sonst könnte das Haus leicht Feuer fangen. Harry Penn sagte nichts. Er führte den Bürgermeister von New York durch riesige, eiskalte Räume.
    Mit den lodernden Fackeln in der Hand hielten sie hier und da an und streckten den Arm in die Höhe, um Gemälde zu beleuchten, die mit unermesslicher Traurigkeit von den Wänden auf sie herabblickten. Ursprünglich hatten diese Porträts wohl zumeist fröhliche oder zufriedene Gesichtszüge gehabt, aber lange Jahre der Stille und Ruhe hatten ihnen den gekränkten Ausdruck verlassener Geister verliehen. Sie schienen es den Lebenden übel zu nehmen, dass sie von ihnen vergessen worden waren. Vielleicht erschraken sie auch darüber, dass der zerbrechliche alte Mann, der nun da unten mit einer Fackel umherging, einst ein kleines Kind gewesen war, in das sie ihre Hoffnungen und ihre Zuversicht gesetzt hatten. Die Bilder wirkten verbittert und wütend darüber, dass sie für alle Zeiten zur Reglosigkeit verurteilt waren und dass man ihr Haus trotz all ihrer Opfer und ihrer Sorge für kommende Generationen dem Wind und der Nacht ausgeliefert hatte.
    »Das sind die Penns, meine Vorfahren«, sagte der alte Mann. »Ich könnte Ihnen den Namen jedes Einzelnen nennen und vieles über sie erzählen, denn es waren Menschen, die ich geliebt habe. Aber sie sind schon alle von mir gegangen. Wie sie wohl staunen werden, wenn sie wieder erwachen!«
    »Wieder erwachen?«
    »Ja. Ich bin mir sicher, dass dies möglich ist, und ich will Ihnen erklären warum. In der Mitte des Sees gibt es eine Insel, wo alle Penns begraben sind oder begraben sein werden. Meine Schwester, die schon vor dem Ersten

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