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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Weltkrieg starb, wurde ebenfalls dort bestattet. Aber jetzt liegt sie nicht mehr da. Allem Anschein nach verließ sie jenen Ort schon bald. Damals erklärte man es sich so, dass ihr Grab von einem Meteoriten getroffen wurde. Ein Meteorit! Niemand scheint die Tatsache bedacht zu haben, dass Meteore zur Erde fallen, nie aber von ihr fort . Zu der Tatsache, dass das Grab völlig ausgelöscht wurde und einfach verschwand, passt übrigens ihr Grabspruch, der lautete: Eingegangen in die Welt des Lichts . Ich kann Ihnen das nicht näher erklären, aber ich bin mir ganz sicher, dass meine Schwester genau das getan hat, was sie selbst angekündigt hatte.«
    In der Tür des höhlenartigen Salons hielt Harry Penn inne und wandte sich zu Praeger um. »Auf ihrem Sterbebett hat sie mir gewisse Anweisungen erteilt, die ich damals nicht verstand. Ich dachte, sie redete im Fieber. Sie trug mir auf, diese Instruktionen an dem Tag auszuführen, an dem ich Peter Lake wiedersehen würde. Er hielt sich damals bei uns auf. Kurz nachdem sie gestorben war, ging er fort, und obwohl wir darauf gefasst waren, dass er plötzlich zurückkäme, sah keiner von uns ihn je wieder – bis zu jenem Tag bei Petipas .«
    »Wie können Sie sich so sicher sein, dass er es war?«
    »Ganz sicher bin ich mir nicht.«
    »Was für ein Mensch war dieser Peter Lake überhaupt?«
    »Sehen Sie selbst!« Harry Penn führte Praeger in den Salon. Schatten bewegten sich rhythmisch auf und nieder, und es roch in dem kalten, ungelüfteten Raum muffig nach feuchten Teppichen und abgedeckten Möbeln. Allmählich füllte sich die Luft mit dem Rauch der Pechfackeln, der schon die Zimmerdecke vernebelte. Es kam den beiden Männern so vor, als stünden sie in einer Höhle ohne Decke oder unter einem Novemberhimmel. Harry Penn ging zum Kamin und hielt seine Fackel hoch. Strahlende Helligkeit fiel auf zwei Gemälde. Eines hing über dem Kamin, ein zweites an der gegenüberliegenden Wand. »Meine Schwester Beverly«, sagte Harry Penn. »Und das war Peter Lake.«
    Bei all ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit war Beverly schön, und sie lächelte. Peter Lake hingegen wirkte eher verdutzt und fehl am Platz. »Als diese Porträts gemalt wurden, fühlte er sich in unserer Familie noch nicht wohl«, erzählte Harry Penn. »Er bildete sich ein, Beverly sei zu gut für ihn, und argwöhnte, dass wir ihn nicht mochten – wegen seiner Herkunft und wegen der Art und Weise, wie er sich seinen Lebensunterhalt verdiente.«
    »Wie verdiente er sich denn seinen Lebensunterhalt?«
    »Er war Einbrecher«, sagte Harry Penn. »Und offenbar ein guter. Ursprünglich war er Mechanikermeister gewesen. Dann bekam er irgendwelche Schwierigkeiten; ich habe nie erfahren, wie und weshalb. Und jetzt, ein ganzes Jahrhundert später, lebt er irgendwo in der Stadt und ist nicht um einen einzigen Tag gealtert. Sehen Sie sich den Hintergrund der Gemälde an: Kometen und Sterne. Betrachten Sie auch ihre Gesichter. Diese beiden sind nicht tot, da bin ich mir sicher. Bitte hängen Sie die Bilder ab.«
    Als Praeger zurücktrat, nachdem er die Gemälde vorsichtig auf den Boden gestellt hatte, sah er, dass Harry Penn hinter ihm Vorhänge und Möbel anzündete. »Was tun Sie da?«, schrie er.
    »Ich führe Beverlys Anweisungen aus«, antwortete Harry Penn, und selbst aus seiner Stimme sprach so etwas wie Feuer.
    »Und was geschieht mit den Bildern?«
    »Eigentlich hätten sie auch verbrennen sollen, aber ich brauche sie. Nehmen Sie sie mit und kommen Sie!«
    Rasch gingen sie durch die Hallen und Korridore. Überall setzte Harry Penn unterwegs die Möbel und Wandverkleidungen in Brand. Als sie schließlich die Eingangstür erreichten, leuchtete das Haus bereits heller als ein klarer Sommernachmittag, und in seinem Inneren tosten die Flammen. Sie verwandelten die Räume in hohle, orangerote Kammern und gleißende Feuerbälle. An den Treppen züngelten sie wie riesige Schlangen, die dem See auf der Suche nach kleinen Kindern entstiegen waren. Fast schien es, als ob das Haus tanzte und sich drehte. Hundert Sommer schienen unter einem einzigen Vergrößerungsglas zu brennen, und hundert Winter erstanden mit ihrem klirrenden Frost. All die Feuer und Tänze und Küsse und Träume, die das Haus beherbergt hatte, wurden nun frei. Als heiße, bleiche Wirbelwinde drehten sie sich um sich selbst und entzündeten in plötzlichem Aufruhr das wehrlose Holz. Kreischend wie eine soeben gezündete Rakete schlug das Feuer nach oben und

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