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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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seinen Muskeln, seinen Fingern und seinem Herzen jedoch bestens bekannt waren. Wenn er nicht ruhig in der Wand stehen bleiben konnte, ohne abzustürzen – woher hatte er dann die Kraft, sich aufwärtszubewegen? War das Gleichgewicht so empfindlich, dass ihn die anfängliche Kraft, mit der er sich unten abgestoßen hatte, so lange nach oben befördern würde, wie es ihm beliebte, sofern sich nur die Kraft, die ihn an der Wand haften ließ, mit jener die Waage hielt, die ihn nach unten zog? Wenn das jedoch der Fall war, warum konnte er sich dann nicht in einem Zustand völliger Schwerelosigkeit an den Ovalen, Girlanden und Zacken festhalten? Auf jeden Fall war bei dieser tollkühnen, ganz auf die Kraft des Glaubens gegründeten Kletterpartie, bei der die Gesetzmäßigkeiten der Kräfteverhältnisse bis auf weiteres außer Kraft gesetzt wurden, auch ein wenig Zauberei im Spiel. Mit dem Segen, der Selbstvergessenheit und dem Mut, den gute Bergsteiger mit der Höhenluft einatmen, erklomm Hardesty eine fast glatte Steilwand in der Grand Central Station.
    Als er schließlich in schwindelnder Höhe einen rußigen Vorsprung erreichte, hielt er sich mit der rechten Hand daran fest und atmete erleichtert auf. Obwohl ein Sturz in die Tiefe den sicheren Tod bedeutet hätte, fühlte er sich so sicher, als stünde er mit beiden Beinen auf festem Boden. Er ruhte sich kurz aus, dann schwang er sich hinauf.
    Die Polizisten waren nun viele Stockwerke unter ihm. Sie hätten sich ohnehin nicht vorzustellen vermocht, dass es jemandem gelingen könnte, sich an ihnen vorbeizumogeln und dort oben fast so frei zu sein wie die Schwalben. Und selbst wenn die Reisenden hinaufgeschaut hätten, um die Sterne zu betrachten, wäre der Mann, der dort auf einem ungeschützten Mauervorsprung entlanglief, ihren Blicken wohl entgangen.
    Eine der unteren Scheiben eines Bogenfensters war herausgebrochen. Vielleicht war ein Vogel dagegengeflogen, oder sie war von einer verirrten Kugel durchschlagen worden. Hardesty kroch durch die Öffnung und befand sich nun in einer dämmrigen Halle. Der Boden war von einer dicken Staubschicht bedeckt, in der sich Fußspuren abzeichneten, die verrieten, dass hier ein einsamer Mensch entlanggegangen war. Sie führten zu einer Wendeltreppe am Ende eines langen Ganges. Nachdem Hardesty die sieben Windungen der Treppe hinaufgeeilt war, stand er in einem kleinen Gewölberaum, der wie eine Kapelle aussah. Er fand eine niedrige Eisentür, die aber von innen abgeschlossen war.
    Hardesty, der erbärmlich wenig über Einbrechen und Einsteigen wusste, begann, sich ein ums andere Mal gegen die Tür zu werfen, und tatsächlich gab sie allmählich ein wenig nach.
    Peter Lake hatte sich gerade auf sein Bett zwischen den Eisenträgern zurückgelehnt und las in der Police Gazette vom November 1910. Inzwischen hatte er sich an viele seltsame Dinge gewöhnt. Ohne allzugroße Verwunderung, sondern eher mit Vergnügen hatte er die Bilder von übellaunigen Rowdys und schlauen Gaunern betrachtet. Er sah Fahndungsfotos von Leuten wie James Casey, Charles Mason, Dr. Long und Joseph Lewis. Obwohl sie ihm bekannt vorkamen, wusste er nicht zu sagen, was ihn mit ihnen verband. Warum rührte ihn eine alte Fotografie des Taschendiebes William Johnson so an? War es wegen der Melone und dem Anzug aus der Zeit König Eduards, die der Kerl trug? Weckten solche Dinge, die mit Sicherheit längst ebenso zu Staub zerfallen waren wie ihr Besitzer, in ihm die Vorstellung von einer Zeit, in der sich die Welt des Menschen und die Natur noch die Waage gehalten hatten? Da die Lebensumstände sogar dem Ungebildetsten genügend Kultur und eine Umgebung zugestanden, die es ihm erlaubten, mit beachtlichen Resultaten über die eigene Lage nachzudenken? Wie sonst sollte er sich ihren traurigen und wissenden Blick erklären? William Johnson (das war natürlich ein Deckname, einer von einem Dutzend), ein Taschendieb, bewies durch das Funkeln in seinen Augen, dass er über seine eigene Zeit hinausgeblickt hatte und jene verstand, die nach ihm kamen. Nachdem sich der Schaum der Tage erst einmal geglättet hatte, zeigte es sich, dass aus den Gesichtern von Taschendieben, Polizeispitzeln und kleinen Ganoven oft die Beseeltheit und Magie sprach, die die Maler der Renaissance den Gesichtern ihrer Engel und Heiligen verliehen hatten.
    Peter Lake war seltsam erschüttert von dem gläubigen und väterlichen Blick dieses William Johnson. Gerade wollte er umblättern (und hätte er

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