Wintermaerchen
Bewegung des Lichts. In langsam fließenden, fest umrissenen Strömen ergoss es sich über die Oberfläche öligglänzenden Stahls, erzeugte Regenbögen, Juwelengefunkel und glitzernde, distelförmige Gebilde, deren Zweige sich ihm wie Arme entgegenstreckten.
*
Asbury und Christiana, die für die Sun etwas zu erledigen hatten, fuhren gerade am Rand der Stadt der Armen entlang über eine Schnellstraße in Richtung Manhattan, als sie den höllischen Feuerschein am Himmel sahen. Wenige Minuten später blieben sie im Stau stecken. Der Mob hatte eine Signalanlage quer über die Straße gestürzt. Asbury und Christiana waren eine halbe Meile von der Stelle entfernt und konnten von weitem sehen, wie der Pöbel über die eingekeilten Autos herfiel.
Da sie sich fürchteten, ihre Wagen zu verlassen und sich in die Stadt der Armen vorzuwagen, wo aus der Trümmerlandschaft jetzt ebenfalls Flammensäulen in den Himmel wuchsen, verriegelten die meisten Autofahrer die Türen. Gelähmt vor Angst sahen sie zu, wie Tausende von Plünderern die Schnellstraße überschwemmten. Autos wurden umgestürzt, Scheiben eingeschlagen, Benzintanks aufgebrochen und angezündet. Ganze Familien wurden aus den Autos gezerrt und einzeln in die Finsternis verschleppt. Die Straßenböschungen wurden zu einem Schlachthaus, wo blitzende Klingen zitternde Opfer aufschlitzten, sodass das Blut in Strömen floss. Während der Mob immer näher rückte und einen Wagen nach dem anderen demolierte, schlossen viele der Insassen die Augen und sagten ihr letztes Gebet.
Zehn Minuten lang überflogen die ersten Transporthubschrauber mit Truppen an Bord die Szenerie, aber der Qualm verbarg das Gemetzel in der Tiefe.
Asbury und Christiana ließen ihr Auto stehen. Sie sprangen über die Leitplanke und fanden sich auf einem Trümmergrundstück wieder.
»Wie weit reicht es?«, fragte Christiana und blickte über die mit Ziegelsteinen übersäte Ebene.
»Meilenweit.«
»Immerhin ist hier niemand. Wenn wir uns zwischen den Schutthaufen verstecken, sind wir vielleicht sicher«, sagte Christiana, doch noch während sie sprach, erinnerte sie sich an das, was sie auf jener Fahrt durch die Stadt der Armen gesehen hatte. Seither wusste sie, dass es Menschen gab, die sich zwischen den Trümmern mit der Geschwindigkeit von Gazellen bewegen konnten. Wie Raubtiere lauerten sie jenen auf, die sich auf das unübersichtliche und ungastliche Terrain verirrten.
»Schon möglich«, antwortete Asbury, »aber wir müssen es bis zum Fluss schaffen, bevor es hell wird. Bei Tagesanbruch entdeckt man uns hier sofort.«
Eilends machten sie sich auf den Weg und orientierten sich an der dunklen Masse der Hochhäuser von Manhattan. Zwischen ihnen und dem Fluss lagen mindestens fünf Meilen. Die eine Hälfte des Weges führte über Schutt und Trümmer, die andere durch eine unbekannte Öde verlassener Kellerlöcher, an die sich außer den ehemaligen Bewohnern niemand mehr erinnerte. Eigentlich hatten sie vorgehabt, zu Fuß über den zugefrorenen East River zu gehen, aber die Fahrrinne in der Mitte hatte sich inzwischen in einen reißenden Fluss verwandelt, dessen Bett sich immer tiefer in das schmelzende Eis schnitt. Die Wasseroberfläche war bedeckt mit brennendem Ölschlamm, und die Flammen schossen hundert Fuß hoch in die Höhe.
»Wir können nur eins tun«, sagte Asbury. »Wir müssen zum Hafen und außen herumgehen. Aber erst, wenn es wieder dunkel ist.«
In der Absicht, sich tagsüber irgendwo zwischen den Trümmern zu verstecken, huschten sie von einem ausgebrannten Haus zum anderen und wagten sich immer erst weiter, wenn sie sich vergewissert hatten, dass niemand in der Nähe war.
Sie verließen gerade eine verwahrloste Mietskaserne, an der die verrosteten Feuertreppen wie toter Efeu herabhingen, als sie plötzlich ein alter Mann anrief, der in einem Erdloch gekauert hatte. Er gab ihnen mit der Hand ein Zeichen, zu ihm hinüberzukommen. Als sie bei ihm waren, forderte der Alte sie in einer kaum verständlichen Mundart auf, ihm zur Kirche zu folgen.
»Was für eine Kirche?«, fragte Asbury und erfuhr in demselben obskuren Dialekt, dass die Menschen in dieser heruntergekommenen Gegend sich bei Gefahr immer in die Sicherheit eines Kirchhofs begaben.
Der Schutt war zu riesigen Halden aufgetürmt, sodass der Hof der Kirche von der Straße aus nicht zu sehen war. Außerdem wurde er von einem seit langem zweckentfremdeten Kreuzgang umschlossen. An die tausend Menschen drängten sich
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