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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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einem freien Fleckchen, um sofort in unvermindertem Galopp weiterzupreschen. In einer der verstopften Straßen der Innenstadt geschah etwas, das Peter in Staunen versetzte. Als es nämlich so aussah, als wären sie durch einen schier unüberschaubaren Verkehrsstau zum Umkehren gezwungen, wieherte der Hengst mit einer Mischung von Furcht und Trotz, dann raste er geradewegs auf das Knäuel von Fuhrwerken und Autos zu, hob ab, überflog eine atemlos gaffende Menschenmenge und landete sicher einen Häuserblock weiter.
    Als sie die hohen Bäume am Rand des Battery Parks erreichten, stieg Peter Lake ab und ging zu Fuß neben dem Pferd her. Nie zuvor hatte er ein so schönes Tier gesehen. Der Hengst hatte dunkle, warm blickende Augen, samtweiche rosa Nüstern, einen nobel geschwungenen Hals und eine so fein modellierte Brust, dass sie der schönsten aller Reiterstatuen wohl angestanden hätte. Die Ohren waren groß, spitz und von lebhaftem Spiel. Im Galopp hatte der Hengst sie stromlinienförmig nach hinten an den Kopf gelegt. Beim Gehen wippte der lange Schweif fast arrogant hin und her. Die Hinterflanke des Hengstes war schneeweiß und so rund wie die Hälften eines riesigen Apfels.
    »Wer bist du?«, fragte Peter und wandte sich zu dem Hengst um. Das Tier sah ihn an, und Peter gewahrte erschauernd, dass die dunklen Augen unendlich tief waren, wie der Eingang zu einem Tunnel, der zu einer anderen Welt führte. In der Stille dieses sanften, schwarzen Blickes lag eine durch nichts zu zerstörende Unschuld. Peter berührte leicht die weichen Nüstern, dann schlang er die Arme um den großen Pferdekopf. »Gutes Pferd!«, sagte er, aber irgendwie machte ihn die geduldige Sanftmut des Hengstes sehr traurig. Ein kalter Wind strich durch das Geäst der Bäume, während er hier stand und einem Pferd in die Augen blickte, als befänden sie sich mitten in einer der tiefverschneiten Ebenen des Nordens. Bisher hatte Peter in seinem ruhelosen Leben nur Menschen kennen gelernt, die wie er selbst innerlich zu brennen schienen. Von Gier getrieben taumelten sie durch das Dasein und verschwendeten im Sommer wie im Winter ihre Kräfte in einer Stadt, die sie nicht losließ.
    In den dunklen Augen des Hengstes tanzten zwei goldene Pünktchen. Plötzlich wusste Peter, dass sich ein tiefgreifender Wandel in ihm vollzog. Lange blickte er in die schwarzen Schlünde dieser Pferdeaugen hinab. Er verlor sich in der Wärme dieses Blickes, und als er zurückkehrte, war ihm, als habe er auf den Grund der Dinge geschaut. Nach einer Weile machten sie sich müde und frierend auf den Rückweg in die Stadt. Peter hatte vor, irgendwo an der East Side ein warmes Plätzchen für den Hengst und einen Unterschlupf für sich selbst zu finden. Den Weg dahin wusste er noch genau aus der Zeit, als er sich seinen Lebensunterhalt mit allerlei handwerklichen Arbeiten verdient hatte. Doch um dorthin zu gelangen, mussten sie viele Meilen durch verschneite Straßen zurücklegen, während sich violett der Abend herabsenkte und ihnen die Müdigkeit tanzende Schatten vor die Augen zauberte.
    *
    Ein Wald aus silbrig glänzenden Stahlträgern, Querstreben und eisernen Bögen, die von dicken Nieten zusammengehalten wurden, umgab Peter Lake. Der Widerschein von elektrischem Licht fiel von unten auf das Filigranwerk der gewölbten Dachkonstruktion. Aus der Tiefe kamen warme Luftströme heraufgezogen und umspielten fast sichtbar die vielen kleinen Lichter, die unter der großen Kuppel der Grand Central Station die Sternbilder des nächtlichen Firmaments darstellten. Dieser künstliche Himmel aus grünen Lämpchen war erst kürzlich dort oben unter dem Dach der riesigen Bahnhofshalle installiert worden.
    Wenige Menschen außer Peter Lake wussten, dass es hinter jener Nachbildung des Sternenhimmels, der von unten so aussah, als schwebte er tatsächlich im freien Raum, einen sicheren Schlupfwinkel gab. Dort hatte sich Peter mit List und einiger Mühe einquartiert. Er kannte sich hier gut aus, denn er hatte als Schmied an der Konstruktion dieses kleinen technischen Wunderwerkes mitgewirkt. Aus Eichenbohlen hatte er sich vor kurzem eine stabile Plattform gezimmert. Sein Nachtlager bestand aus einer Matratze und einem Federbett. Sogar eine improvisierte »Küche« gab es: Auf einen Querträger hatte Peter Keksdosen und Konserven gestapelt. Für die abendliche Lektüre lagen einige technische Bücher bereit. Eine kleine Lampe, die eigentlich ein Stern am Bahnhofshimmel hätte sein sollen,

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