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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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im gleichmäßigen Fluss der Jahreszeiten zu leben, sich am Anblick schöner Frauen zu weiden und das grandiose, immer gefällige Schauspiel der Weltstadt in sich aufzunehmen.
    Doch dann kam der Tag, an dem Pearly Soames seiner Bande an deren geheimen Versammlungsort tief unter dem Harlem River von der Notwendigkeit sprach, die Sumpfmänner mit Kind und Kegel auszurotten. Peter Lake wusste, dass es ihn den Kopf kosten würde, wenn er versuchte, Pearly Soames von diesem Vorhaben abzubringen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als Humpstone John unmittelbar vor dem Angriff zu warnen. Die Folge wäre eine so fürchterliche Schlappe für die Short Tails, dass sie das Sumpfland von Bayonne fortan meiden würden.
    So geschah es denn auch. Als die Boote der einhundert Mann starken Gang aus dem Dunst tauchten, lagen die Dörfer der Sumpfleute wie ausgestorben da. Die Banditen umklammerten ihre Waffen und freuten sich auf einen leichten Sieg. Doch urplötzlich sahen sie sich von den Sumpfmännern umzingelt. Die wilden Gesellen hatten sich im Schilf versteckt gehalten. Viele von ihnen tauchten halb blaugefroren aus dem Wasser auf; sie hatten geduldig und ausdauernd durch Schilfrohre geatmet. Mehrere Dutzend von ihnen kamen auf schweren Gäulen über die flachen Sandbänke geprescht. Sie stürzten sich auf die überraschten Banditen und hieben mit ihren Schwertern auf sie ein, was das Zeug hielt. Die riesigen Pferde zertrampelten die leichten Boote und deren Insassen, sodass sich das trübe Wasser bräunlich-rot vom Blut der Toten und Verwundeten färbte. Die Frauen und Kinder der Sumpfmänner kamen mit Sicheln und Hacken angerannt. Sie jagten den Flüchtenden hinterher oder erschlugen die Verletzten und Gestürzten. Romeo Tan, Blacky Womble, Dorado Canes und vierundneunzig andere Short Tails verloren ihr Leben. Der arme Cecil Mature, der damals Mitte Zwanzig war, rannte in panischer Angst davon, obwohl Peter ihn ermahnt hatte, sich dicht bei ihm zu halten. Ein berittener Sumpfmann stellte ihm nach und holte gerade mit seinem Schwert zum tödlichen Schlag aus, als Peter jenen unnachahmlichen, außerordentlich schrillen Pfiff ausstieß, den jeder Sumpfmann kannte. Sofort ließ der Berittene von Cecil ab, doch der rannte weiter, mitten hinein in den Wolkenwall! Es war, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Er blieb für immer spurlos verschwunden.
    Pearly Soames bewahrte auch dann noch einen kühlen Kopf, als die Schlacht schon verloren war. Während er sich geschickt der angreifenden Sumpfmänner erwehrte und nicht wenige von ihnen tötete – es war Pearly vom Schicksal nicht bestimmt, durch die Hand eines Muschelsammlers oder Reusenfischers zu sterben –, entging ihm nicht die Wirkung von Peter Lakes Pfiff. Ohne dieses unüberhörbare Signal wäre ihm vielleicht gar nicht aufgefallen, dass Peter Lake nicht angegriffen wurde, also auch nicht kämpfen musste. Pearly Soames, der einzige Überlebende seiner Bande, wandte sich zur Flucht. Es gelang ihm, das Fahrwasser zu erreichen. Dort tauchte er tief und ließ sich von der reißenden Strömung davontragen.
    Peter Lake war zutiefst verstört, aber nach einiger Zeit kehrte er in die Stadt zurück. In seiner Verzweiflung empfand er den Anblick des hochaufragenden, zerklüfteten Häusermeeres als tröstlich. Aus sicherer Deckung musste er mitansehen, wie Pearly Soames die Short Tails neu gründete und straff organisierte. Bald hatte er wiederum einhundert starke, gesichtslose Söldner um sich geschart. Diese Kerle waren so bösartig, besessen und stahlhart wie das Zeitalter, das sie hervorgebracht hatte.
    *
    Von zwei Automobilen verfolgt, flog der weiße Hengst mit riesigen Sätzen dahin. Peter Lake war an die Gäule der Sumpfmänner gewöhnt, die ungestüm durch das flache Wasser preschten. Aber dieser weiße Hengst war anders. Er schien erst jetzt seine eigene Kraft zu entdecken. Bevor er von daheim ausgerissen war und sich mit Peter Lake verbündet hatte, war er nie so schnell dahingejagt wie jetzt. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern. In seiner taubenweißen Brust schien ein Feuer zu brennen, und er fühlte sich fast schwerelos. Mit einer Präzision, die der geraden Flugbahn eines Pfeils glich, raste er so schnell nach Süden, dass er jedes Rennpferd hinter sich gelassen hätte. Mit einem einzigen Satz überquerte er Straßenkreuzungen und sprang über Hindernisse hinweg, ohne sich darum zu kümmern, wie es auf der anderen Seite aussah. Stets landete er sicher auf

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