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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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blickte sie auf und meinte: »Es bedeutet für mich, dass das ganze Universum dröhnt und singt. Nein, es schreit!«
    Der gelehrte Astronom war schockiert. Er hatte schon öfter erlebt, dass sich im Publikum Verrückte oder Menschen mit Visionen befunden hatten. Manche von ihnen hatten Theorien entworfen, die zumindest elegant waren, andere Thesen waren absurd und wieder andere fast schon hirnverbrannt. Meistens hatte es sich jedoch bei ihren Erfindern um alte bärtige Männer gehandelt, die in Dachkammern voller Bücher und Gerümpel hausten, Exzentriker, die ziellos durch die Stadt streiften und Karren mit ihrer armseligen Habe vor sich herschoben, Geisteskranke, die aus überfüllten staatlichen Heilanstalten entlassen worden waren. Immer war etwas Packendes und oft sogar ein Körnchen Wahrheit in den Hirngespinsten solcher Menschen, als wäre ihr geistiges Gebrechen zugleich eine echte Begabung. Gewiss war die schwere Last der Wahrheit, die sie mit so wachen Sinnen witterten, für die Trübung ihres Verstandes verantwortlich. Jedenfalls waren die Wunder, die aus ihren Worten anklangen, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
    Der Astronom hätte sich in seiner Haut wohler gefühlt, wenn sein Gesprächspartner ein invalider Bürgerkriegsveteran oder ein eigenbrötlerischer Erfinder aus einem der hinterwäldlerischen Städtchen am Hudson River gewesen wäre. Das war genau der Menschenschlag, der ihn mit ellenlangen Gleichungen und Berechnungen zu belästigen pflegte. Aber dass nun ein hübsches junges Mädchen vor ihm saß, das noch nicht einmal zwanzig Jahre alt war, eine gepflegte junge Frau aus gutem Hause – diese Tatsache stand in einem so scharfen Widerspruch zur augenscheinlichen Obsession der Besucherin, dass der Astronom tief betrübt, ja sogar ein wenig erschrocken war.
    »Es dröhnt?«, fragte er behutsam.
    »Ja.«
    »Können Sie das genauer erklären?«
    »Nun, es dröhnt oder grollt wie ein Hund, aber tief, ganz tief. Und dann schreit es, mehrstimmig, mit weißen und silbernen Klängen.«
    Der Astronom starrte das Mädchen aus weit aufgerissenen Augen an, und als sie fortfuhr, begann sein Herz heftig zu klopfen.
    »Das Licht ist zuerst stumm, doch dann dröhnt es wie Becken, die aufeinandergeschlagen werden, es sprudelt wie eine Quelle, es schießt hervor und ist doch zugleich still. Das Licht durchquert Räume, ohne sich zu bewegen, ein starres Bündel, so klar umrissen und stumm wie eine Säule aus Rubin oder Diamant.«
    Als Beverly kurze Zeit später wieder auf ihrer Plattform stand, wanderte ihr Blick erneut zu Rigel und dann zu Orion. Die Plejaden waren, wie immer, trotz ihrer verwirrenden Asymmetrie vollendet ausbalanciert, und Aldebaran blinkte aus dem All herab.
    »Wie ihr heute wieder leuchtet!«, sagte Beverly in den Wind. Aldebaran schien ihre Worte mit tänzerischem Gefunkel zu beantworten, an dem das Mädchen viel Gefallen fand, obwohl es ganz lautlos vonstatten ging. Rigel, Beteigeuze und auch Orion redeten in ihrer Sprache zu ihr. Es gab keine schönere Kathedrale, keinen wohlklingenderen Chor als die Sterne, die aus der schweigenden Nacht herab zu all den vielen Schwindsüchtigen sprachen, jener stillen Legion von Verdammten, die irgendwo, von den anderen Menschen unbeachtet, in der Finsternis auf den Dächern ihrer Häuser standen und zum Himmel aufblickten.
    Diese Legion von Schwindsüchtigen hielt auch in dieser Nacht Ausschau, trotz des beißenden Frostes, den der Nordwind wie ein schneller Läufer herbeibrachte, erbarmungslos und hart, eine Bedrohung alles Lebendigen. Sie waren alle da, die Kranken, dem Blick der anderen entzogen, auf den Dächern des stummen Waldes eckig aufragender Gebäude dort drüben jenseits der Brücken, die heller funkelten als diamantenes Geschmeide. Alle waren sie da, doch jeder für sich allein, in stumme Zwiesprache mit den Sternen versunken, dem kalten, fernen Licht ein wenig flüchtige Liebe abringend. Überall nichts als Eis, der Fluss bis zu großer Tiefe gefroren, Bäume und Wege von glitzerndem Schnee bedeckt, mit einer Kruste, die hart genug war für die Hufe der Pferde. Und dennoch glühten die Schlafenden in ihren luftigen Behausungen auf den Dächern wie kleine Öfen.
    Als Beverly sich an jenem Abend an ihren Geliebten, den Sternen, sattgesehen hatte, drehte sie sich ruhig und zufrieden um und war schon bald auf ihrem Lager aus Pelzen und Daunen eingeschlafen.

Eine Göttin im Bad
    I m Dezember wollte die ganze Familie Penn, Beverly ausgenommen,

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