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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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der Dachtraufe verdeckt gewesen, doch nun beschien er das Glas und enthüllte Zehntausende von haarfeinen Rillen, die in die Scheibe eingeätzt worden waren und ein verschlungenes Muster bildeten. Peter zog eine Lupe aus der Tasche und schaute sich das seltsame Liniengewirr näher an. Mittels einer ausgeklügelten Technik, die selbst ihm unbekannt war, waren die feinen Furchen mit kaum sichtbaren Metallfäden ausgefüllt worden. Kein Zweifel, dieses Haus war rundum abgesichert. Peter konnte nicht wissen, dass der alte Penn von der Furcht vor Einbrechern geradezu besessen war. Er hatte heroische Anstrengungen unternommen, um es den Dieben so schwer wie möglich zu machen.
    »Nun gut«, sagte Peter Lake. »Türen und Fenster kann man verbarrikadieren. Das ist völlig in Ordnung. Aber man kann nicht jeden Quadratzoll des Daches und der Wände absichern. Da niemand zu Hause ist, werde ich mir selbst eine Luke ins Dach schneiden.«
    Im selben Augenblick, als Beverly oben auf dem Dach die Tür hinter sich schloss und die eiserne Wendeltreppe hinabging, schleuderte Peter mit geschicktem Schwung einen kleinen dreizackigen Anker, an dem ein Seil befestigt war, nach oben auf das Dach. Es klang wie der Schlag mit einer Axt, als der Anker sich in einen dicken Balken krallte, aber Beverly hörte nichts mehr davon. Peter schulterte seine Werkzeugtasche und kletterte wie ein Bergsteiger an dem mit Knoten versehenen Seil hoch. Unterwegs redete er dem Anker auf dem Dach gut zu, er möge es sich ja nicht einfallen lassen, plötzlich lockerzulassen. Im Inneren des Hauses war Beverly indessen am Fuß der Wendeltreppe angekommen. Es war kurz nach vier Uhr morgens.
    Drüben in der Stadt rührte sich noch nichts. Der Rauch aus einigen Kaminen stieg kerzengerade in die stille Luft, und auf dem Fluss funkelten vereinzelte Lichter von Lotsenbooten oder großen Schiffen, die inmitten des Treibeises vor Anker lagen.
    Beverly und Peter waren, ein jeder auf seine Weise, völlig mit sich selbst beschäftigt. Sie durchquerte leichtfüßig das zweite Stockwerk des Hauses und entledigte sich schon auf dem Weg nach unten ihrer Kleidung. Gleich darauf stand sie im Badezimmer ihres Vaters vor der riesigen Wanne und wartete, bis sie sich mit warmem Wasser gefüllt hatte. Normalerweise hätte sie solche Eile längst erschöpft, aber heute tänzelte sie wie jemand, der sich unbeobachtet fühlt, ausgelassen durch das Haus. Unterdessen rackerte sich Peter oben auf dem Dach ab. Keuchend kurbelte er an einem großen Schneckenbohrer.
    »Dieses verdammte Dach ist anscheinend drei Fuß dick«, knurrte er, während der Bohrer immer tiefer eindrang. »Wahrscheinlich habe ich Pech gehabt und bin ausgerechnet auf einen dicken Querbalken gestoßen.« Er setzte den Bohrer an einer anderen Stelle an, doch nach ein paar Minuten steckte dieser bis zum Bohrfutter im Dach, und es war noch immer kein Ende abzusehen. »Was geht hier vor?«, fragte sich Peter, inzwischen zutiefst verstimmt. »Unter normalen Umständen wäre ich längst im Haus.« Wie sollte er auch ahnen, dass Isaac Penn, dieser Exzentriker und einstige Walfänger, steinreich wie er war, beim Bau des Hauses die besten Schiffszimmerleute mit der Dachkonstruktion beauftragt hatte. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch war das Dach so ähnlich gebaut worden wie der Rumpf eines in der Arktis operierenden Walfangschiffes, dem auch das Packeis nichts anhaben kann. Die Balken waren so dick und lagen so eng nebeneinander, dass Peter Lake selbst bei monatelanger Arbeit kein Loch in das Dach hätte sägen können.
    Als es Peter allmählich dämmerte, dass er wohl durch einen der Kamine würde einsteigen müssen, verdüsterte sich seine Stimmung noch mehr. Im Sommer war das schon schlimm genug, aber im Winter musste man mit unvorhersehbaren Komplikationen rechnen.
    Während Peter oben auf dem Dach herumturnte, schickte sich Beverly an, in die Wanne zu steigen, bei der es sich im Grunde um ein kleines Schwimmbecken aus schwarzem Schiefer und hellem Marmor handelte, zehn Fuß lang, acht Fuß breit und fünf Fuß tief. Das Becken war so beschaffen, dass das Wasser beim Füllen auf ganzer Länge über ein schmales Sims strömte und gleich einem kleinen Wasserfall schäumend und sprudelnd in die Wanne stürzte. Hier hatten alle Kinder der Familie Penn schwimmen gelernt, zuletzt auch Willa. Und trotz seines durchaus verdienten Rufes, eine Säule der Tugend zu sein, hatte Isaac Penn nie etwas dagegen, wenn in dieser Wanne Männlein

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