Wintermaerchen
ungenauen Fertigung unterschiedlich dick oder der Bohrer schon etwas abgenützt. Aber nein, es waren genau zwei Zoll! Vielleicht ist der Safe innen auch nur mit feuerfestem Material ausgekleidet, sagte sich Peter. Er kramte in seiner Werkzeugtasche herum, fand einen dünnen stählernen Stößel, steckte ihn in das Bohrloch und schlug kräftig mit einem Hammer darauf. Der Hammer prallte zurück und flog in hohem Bogen über Peters Schulter bis zur gegenüberliegenden Wand. Eine Tür von drei Zoll Dicke? Unmöglich! Aber das wird sich gleich zeigen. Nach sorgfältigen Messungen und Berechnungen kam Peter zu dem Schluss, dass der Durchmesser der Öffnung und das System der Scharniere eine drei Zoll dicke Tür nicht zuließen. Auf jeden Fall wollte er es trotzdem mit einem Drei-Zoll-Bohrer versuchen.
Ein Stockwerk höher fragte sich Beverly unterdessen, ob wohl das Fieber zurückgekehrt sei oder ob sie sich nur wegen des Bades so erhitzt fühlte. Sie schwitzte, als ob sie innerlich glühte. Vielleicht hatte das Fieber tatsächlich für eine Weile nachgelassen und war nun von dem heißen Badewasser zurückgerufen worden. Ob es wohl besser gewesen wäre, sich ganz still zu verhalten, kaum zu atmen und inbrünstig zu hoffen, dass sich das Fieber irgendwann durch eines der Fenster davonmachen und sich draußen im Schnee endgültig abkühlen würde, nachdem es zuvor blindwütig, aber vergeblich im Inneren des Hauses nach ihr, Beverly, gesucht hätte? Doch wer konnte wissen, ob ihr das unvorsichtige Verhalten am Ende nicht doch zugutekäme? Beverly erinnerte sich daran, was ihr Vater einmal über jene Menschen gesagt hatte, die zu lange zaudern und sich nach allen Seiten abzusichern trachten: »Gott lässt sich nicht übertölpeln, indem man einfach stillhält«, hatte er gesagt und sie ermahnt, Mut und Beherztheit zu zeigen. Diese Aufforderung hätte er sich jedoch sparen können, denn Beverly hatte es von klein auf durchaus nicht an Courage gefehlt.
Mit einer schwungvollen Geste wischte sie über den beschlagenen Spiegel und erblickte eine prächtige junge Frau, deren gerötetes Gesicht und deren Brust von kleinen glitzernden Schweißperlen bedeckt waren. Nieder mit dem Fieber! Kämpfe es nieder oder gehe selbst kämpfend unter, ermunterte sie sich. Mut konnte nicht unbelohnt bleiben – oder doch? Nun, das wird man sehen. In der Zwischenzeit gab es jedoch kein Wenn und Aber – sie würde kämpfen!
Beverly wickelte sich in ein großes Badetuch, steckte es an der Schulter mit einer silbernen Brosche zusammen und machte sich auf den Weg nach unten, um ein wenig Klavier zu spielen. Wegen des Fiebers machte ihr sogar das Gehen Mühe, aber die kühle Luft erfrischte sie wie eine frische Brise im Gebirge.
Auch Peter Lake schwitzte ausgiebig. Der Drei-Zoll-Bohrer war bis zum Anschlag in dem Loch verschwunden! Er zog ihn heraus, blies die Bohrspäne fort und steckte die Ahle ins Loch. Stahl, solider Stahl! Peter packte den Hammer und schlug mit ganzer Kraft zu. Fast hätte ihn der Hammer erschlagen, denn wie ein Querschläger prallte er zurück. Peter vergaß, warum er in dieses Haus eingebrochen war und spannte einen zehn Zoll langen Bohrer ein.
»Ich werde mit diesem Miststück fertig!«, fluchte er mit halbirrem Blick. »Und wenn es mich umbringt!« Er rollte die Ärmel seines Hemdes hoch und begann wieder zu bohren. Schweiß rann in Strömen über sein Gesicht, brannte ihm in den Augen und tropfte auf den dunkelroten Teppich.
In diesem Augenblick schwebte Beverly wie ein Wolke an der weit geöffneten Tür des Arbeitszimmers vorbei. Aus den Augenwinkeln glaubte Peter etwas Helles wahrgenommen zu haben. Er drehte sich um und war innerlich darauf gefasst, ein Gespenst zu erblicken. Aber da war nichts. Beverly hatte schon die Küche erreicht. Peter machte sich wieder an die Arbeit. Er packte den runden, rot lackierten Griff seiner Handbohrmaschine und begann, wie von Sinnen daran zu drehen.
Beverly saß in der Küche und starrte in die rote Gluthölle des Toasters. Plötzlich vernahm sie das quietschende und mahlende Geräusch des Bohrers. Zuerst dachte sie, es sei eine große Ratte. Argwöhnisch blickte sie sich um. Seit wann gab es in diesem Haus Ratten? Die Vorstellung ließ sie erschauern. In ihrer Fantasie blickte sie in Gräber; das Erdreich, aber auch die Leichen waren von einem engmaschigen Tunnelnetz durchzogen, in dem die Ratten hin- und herhuschten.
Zwei Scheiben Toast sprangen mit einem lauten metallischen
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