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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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auch?«
    »Gewiss«, erwiderte der Rechtsgelehrte. »Auch ich pflege mich vor jedem wichtigen Gerichtstermin zu betrinken oder in einem Hurenhaus zu entspannen. Zügellosigkeit dieser Art wirkt sich eindeutig klärend auf meinen Geist aus, macht bei mir gewissermaßen Tabula rasa , sodass wieder neue Energien in mich hineinströmen können.«
    Bald darauf fand sich Peter Lake in einem der schlichten, weiß getünchten Räume einer nahe gelegenen Herberge wieder. Dort schlief er traumlos bis zum frühen Morgen. Als er sich erhob, fühlte er sich ausgeruht und voll neuer Kraft. Er wusch sich, rasierte sich, trank ein paar Schlucke eiskaltes Wasser und trat in die Kälte hinaus. Als wäre es schon Frühsommer, schlenderte er ungeachtet der frostigen Temperatur durch die verlassenen Straßen. Innerlich fühlte er sich warm und springlebendig, voll Liebe, Kraft und Zuversicht. Welch hübsche Überraschung, am Stall anzukommen und den Hengst schon wach, unternehmungslustig und vor Energie strotzend vorzufinden!
    Beverly erwachte genau um vier Uhr morgens. Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie über sich einen frühlingshaften Nachthimmel. Von den zahllosen Sternen ging eine solche Klarheit und Ruhe aus, dass es Beverly für kurze Zeit so vorkam, als wäre die Winterluft sanfter und wärmer geworden. Am Firmament erblickte sie keine wallenden Sternennebel, keine eisige Unendlichkeit, sondern ein fröhliches, anheimelndes Gefunkel wie in einer lauen Sommernacht.
    Beverly lächelte entzückt. Da sie nicht mehr schlafen konnte, setzte sie sich ohne die gewohnte Mühe auf und stand gleich darauf auf den Füßen. Nun war sie ganz von der Sternennacht umgeben. Kaum wagte sie zu atmen, um den Zauber dieser Nacht nicht zu stören. Sie fühlte sich fieberfrei. War es möglich? Ja, sie hatte beim Aufstehen nicht den üblichen Hitzeandrang verspürt, sie zitterte nicht wie sonst am ganzen Körper, und das Atmen fiel ihr leicht. Schnell entledigte sie sich der engen Haube aus Zobelpelz, die ihren Kopf umhüllte. Hatte sie wirklich kein Fieber mehr? Anscheinend nicht, aber sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Am besten war es, erst einmal ins Haus zu gehen, zu baden, die Temperatur zu messen und abzuwarten, ob die Quecksilbersäule des Thermometers nach ein paar Stunden nicht doch wieder in die Höhe schoss wie eine Möwe, die sich im Sommer von einem starken Aufwind emportragen lässt.
    Peter Lake war vor einem Weilchen eingetroffen. Vorsichtig machte er im Mondschein eine Runde um das Haus. Alle leicht zu erreichenden Einstiegsmöglichkeiten hatten dicke Eisengitter, aber das bereitete ihm keinerlei Kopfzerbrechen. In Peters Werkzeugtasche befand sich auch ein tragbarer Schneidbrenner, mit dem man Eisenstangen durchtrennen konnte, als wären sie aus Butter. Schon wollte Peter ein Streichholz an den Brenner halten, aber dann überlegte er es sich anders. Er kramte in seiner Tasche herum und zog ein Voltmeter heraus. Tatsächlich, das Eisengitter stand unter einer schwachen elektrischen Spannung! Peter überlegte, wie sich diese Sicherheitsvorkehrung am besten umgehen ließ, doch dann fiel ihm auf, dass die Gitterstäbe unterschiedlich dick waren. Bei genauerer Überprüfung stellte er erstaunt fest, dass in jedem der Eisenstäbe ein kompliziertes, gezacktes und spiralförmiges Muster eingeprägt war. Es schien sich um schmale Streifen aus einem anderen Metall zu handeln. Um dieses Alarmsystem auszutüfteln, musste irgendjemand tagelang viele Seiten Papier mit Berechnungen und Zeichnungen bedeckt haben. Peter gab sich nicht der falschen Hoffnung hin, diese Barriere in einer finsteren Winternacht bei fünfzehn Grad unter null überwinden zu können. Beeindruckt, ja sogar fast erfreut begab er sich auf die andere Seite des Hauses und kletterte auf ein breites Fenstersims. Er befand sich jetzt in der Höhe des großen Salons. Das große Fenster war nicht vergittert, und Peter überzeugte sich mit einem Blick davon, dass die Scheibe innen nicht von einem silbrigen Metallstreifen eingefasst war. Hier hatte man also auf eine Alarmanlage verzichtet, aber vielleicht war das Fenster auf eine andere Weise abgesichert. Peter störte sich daran nicht. Sofern man die nötige Vorsicht und Sorgfalt walten ließ, war solchen Vorrichtungen immer beizukommen. Er brauchte nur mit dem Glasschneider ein großes, rundes Loch in die Scheiben zu schneiden, und schon stünde er drinnen auf dem Klavier.
    Der Mond rettete ihn. Soeben war er noch von

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