Wintermörder - Roman
erkennen. Den Körper in Brusthöhe abgeschnitten, standen sie vor einer Brüstung, den Blick nach links auf die Silhouette einer Stadt gerichtet, die sich unterhalb vor ihnen ausbreitete. Der Mann rechts hielt den Arm ausgestreckt und zeigte auf das Panorama. Sightseeing vor Jahrzehnten!
Das Schweigen im Raum hielt an, während Fischer den Umschlag erneut öffnete, um ihn genau zu untersuchen. Doch da war nichts mehr. Nur dieses Foto von zwei Männern in dunklen Anzügen, in den besten Jahren ihres Lebens. Ihre Körperhaltung sprach davon, dass sie sich auf dem Höhepunkt von Macht und Einfluss fühlten. Sie waren oben angekommen.
»Ist es ein Original?«, brach schließlich Fuchs das Schweigen.
»Das muss das Labor prüfen«, antwortete Nina Vatana.
»Auf jeden Fall ist es alles, was der Entführer uns schickt.« Fischer begann seine Unterlagen zusammenzupacken. »Mehr haben wir nicht. Er lässt uns am ausgestreckten Arm verhungern.« Er schüttelte den Kopf. »Nur ein altes Foto.«
»Die Nachricht richtet sich an die Familie Winkler.« Liebler blieb ruhig. »Sie werden etwas damit anfangen können und wissen, wer die beiden Männer sind.«
»Viel Spaß. Das ist dein Job.« Fischer reichte ihm das Foto und stürzte, die Unterlagen unter den Arm geklemmt, an Myriam vorbei durch die Tür.
Henri Liebler steckte langsam das Foto in den Umschlag zurück. Im Gehen zog er die braune mit Schaffell gefütterte Wildlederjacke über. Als er auf Myriams Höhe war, beugte er sich zu ihr hinunter und fragte: »Begleiten Sie mich?«
Seit über einer halben Stunde saß Carl Winkler in Lieblers Büro, ein Glas Wasser vor sich, das er noch nicht ein einziges Mal angerührt hatte.
»Hatte Ihre Mutter Feinde?«, fragte Liebler.
»Feinde?« Carl Winkler wischte die Brille zum dritten Mal sauber.
»Jemand, der einen Grund hatte, ihr das anzutun?«
»Sie war kein einfacher Mensch, weiß Gott. Aber Fein-de? Seit dem Armbruch im letzten Sommer hat sie doch das Haus kaum noch verlassen. Mein Gott, sie ist fünfundachtzig Jahre alt.«
Myriam konnte sich kaum an Denise’Vater erinnern. Mit Sicherheit war sie ihm früher begegnet. Auf den Schulfesten, bei den Konzertabenden, an denen Denise Klavier spielte, Chopin interpretierte. Sein schmales, blasses Gesicht war glatt rasiert. Das Dunkelblond der dünnen Haare ging fast unmerklich in ein dunkles Grau über. Er wirkte unscheinbar, nicht nur wegen des farblosen Anzugs und der zur Unsichtbarkeit tendierenden Krawatte, die wie ein Chamäleon die Farbe des Hemdes angenommen hatte.
»Ich bin mit Denise zur Schule gegangen«, sagte sie, um eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, doch Winkler schaute lediglich durch die Brille über sie hinweg, schien ihre Bemerkung nicht einmal gehört zu haben.
»Sie kommen gerade aus Berlin?« Liebler setzte sich direkt vor ihn. »Hatten Sie einen guten Flug?«
»Wir hatten Verspätung. Die Startbahn war vereist.« Winkler griff nervös zum Glas. Seine Hand zitterte, doch er trank
keinen Schluck.
»Wer hat Sie über den Tod Ihrer Mutter informiert?«
»Frau Hirschbach.«
Liebler nickte mehrfach, um Verständnis zu signalisieren. »Sie arbeitet schon lange für Ihre Mutter?«
»Seit meiner Geburt.«
»Es ist gut, dass Sie jemanden haben, der sich um Sie und Ihre Tochter kümmern kann.«
»Ja, sie ist eine große Hilfe.«
»Die Entführung Ihres Enkels muss ein großer Schock sein.«
»Ja«, antwortete Winkler. Das Glas in seiner Hand zitterte. Er stellte es zurück auf den Tisch, wobei das Wasser überschwappte und auf Lieblers Schreibtisch einen nassen Fleck hinterließ.
»Was haben Sie in Berlin gemacht?«
»Wir bauen dort ein Bürohochhaus.«
»War es bekannt, dass Sie verreisen würden?«
»Es war kein Geheimnis. Einfach eine normale Geschäftsreise.«
»Wie lange war die Reise geplant?«
»Wie lange sie geplant war … mein Gott … da müsste ich meine Sekretärin fragen, aber seit einigen Wochen. Vielleicht seit Ende November. Spielt das eine Rolle?«
Wieder nickte Liebler mehrfach. »Der Täter wusste, dass Ihre Mutter allein zu Hause war. Wenn er mit dem Entführer identisch ist, wovon wir ausgehen müssen, hat er Ihre Familie schon länger beobachtet. Er hat Sie ausgesucht.«
»Ausgesucht? Uns? Warum sollte er uns aussuchen? Weil wir etwas Besonderes sind? Denkt er, wir sind reich? Das sind wir nicht. Wissen Sie, wie es derzeit auf dem Bau aussieht? Natürlich wissen Sie es. Jeder weiß es. Aber was es bedeutet, in
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