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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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sah sich um. Das Ergebnis war ernüchternd. Im Gegensatz zu Denise’ Haus war ihre Wohnung ein besserer Schuhkarton mit Möbeln aus schwedischen Streichholzschachteln.
    Sie schleuderte die grünen Stiefel von sich. Jemand hatte einmal gesagt, sie hätte perfekte Füße. Nicht jemand. Thomas. Er war Arzt. Er musste es wissen. Auch wenn er sie betrogen hatte, das mit den schönen Füßen hatte er ehrlich gemeint. Er hatte sie immer zuerst geküsst. Wie hatte sie sich nur einbilden können, er liege ihr zu Füßen. Dein sonst so scharfer Verstand, Myriam, grenzt in Liebesdingen an Blödheit.
    Ihre Kleider, ihre Unterwäsche fielen zu Boden. Sie stellte das Wasser der Dusche auf heiß! Die einzige Möglichkeit, dass ihr warm wurde. Ihre Hand strich über ihren Körper. Sie war völlig ausgelaugt. Hinter dieser Haut war nichts. Nichts außer Organen, Muskeln, Knochen. Wann endlich war sie an der Reihe? Wann endlich begann ihr eigentliches Leben? Wann endlich würde sie aufhören, nur im Kopf zu leben?
    Das Telefon hörte sie erst, als sie die Dusche verließ. Fast wäre sie auf dem feuchten Boden ausgerutscht. Sie konnte sich gerade noch an der Toilette abfangen. Im Flur schaltete sich der Anrufbeantworter an.
    Vergeblich wartete sie, dass der Anrufer sich meldete.
    Doch niemand sprach.
    Da war nur Stille.
    Eine Stille, die zu hören war.

Zofia
Donnerstag, 1. Januar 1942, Krakau
    Als ich aufstehe, ist die Wasserleitung eingefroren. Meine Mutter schickt mich in das Haus gegenüber, das leer steht, um Wasser zu holen. Sie selbst sitzt im Bett, raucht und sagt: »Jetzt geht auch noch das Wetter zum Angriff über.«
    Während ich mich in der Kälte anziehe, schimpft sie heiser über die Soldaten, die die ganze Nacht hindurch laut lärmend durch die Straßen gezogen waren, um sich zu betrinken. Auch ich habe ihr Gelächter durch die geschlossenen Fenster bis in mein Schlafzimmer gehört und bin um Mitternacht von ihren Schüssen aufgewacht, mit denen sie den Jahreswechsel ankündigten.
    Es ist schrecklich, bei dieser Kälte hinauszumüssen. Alle im Haus schlafen noch, selbst Frau Lipska im Erdgeschoss, der sonst nichts entgeht. Ich trage den einzigen Mantel, den wir noch haben. Meine Zehen, vor allem sie, fühlen sich an wie gefroren.
    Im Keller ist es dunkel. Das einzige Licht dringt durch ein schmales, vergittertes Fenster. Der Boden ist mit einer glitschigen Eisschicht bedeckt. Ich fülle das Wasser aus dem Brunnen in die Eimer, beeile mich, steige vorsichtig die Treppen hoch. Die Eimer sind schwer. Das Wasser schwappt leicht über. Immer wieder muss ich anhalten, um mich auszuruhen. Der Schnee der letzen Tage ist gefroren, sodass jeder Schritt unter den Schuhen knirscht.
    Das Auto höre ich schon, bevor ich es sehe.
    Der Motor knattert laut.
    Ich stehe mitten auf der Straße, greife nach den Eimern, will weitergehen, da höre ich, wie der Wagen hält.
    Sofort ist die Angst da. Sie lauert immerzu. Wie der Hunger, und das Gefühl, dass mir kalt ist.
    Ich gehe schneller. Die beiden Eimer werden von Minute zu Minute schwerer, als ob das Wasser in ihnen Tropfen für Tropfen gefriert.
    Warum drehe ich mich um?
    Ich blicke in die Lichter des Wagens, schaue ihm in die Augen.
    Nicht mehr umdrehen! Nicht auffallen!
    Weiter!
    Endlich erreiche ich den Bürgersteig vor unserem Haus. Jetzt muss ich den Schlüssel aus der Manteltasche nehmen. Die Handschuhe sind dick gefüttert und unförmig.
    Die Autotür knallt zu.
    Ich ziehe den Handschuh mit dem Mund aus, fühle nichts außer Panik. Der Schlüsselbund ist feucht. Er fällt zu Boden. Rutscht einfach durch die Finger. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben.
    Das Leder der Stiefel knirscht.
    Ein Hund bellt laut.
    Er ist direkt hinter mir.
    »Dreh dich nicht um! Gleich hast du es geschafft. Du schließt auf und bist in Sicherheit.«
    Da sehe ich aus den Augenwinkeln die Uniform.
    Klein ist der Deutsche und dick. Die mit grauen Strähnen durchzogenen braunen Haare sind in der Mitte gescheitelt. Die Pomade glänzt. Außerdem stinkt er aus dem Mund. Nach Alkohol. Er trägt keinen Mantel. Vielleicht frieren Soldaten nicht.
    Hässlich ist er. Das ist gut. Hässliche Menschen kann man leichter hassen.
    Er leuchtet mir mit der Taschenlampe in die Augen und brüllt: »Name?«
    »Zofia Lisowska.«
    Er blickt auf unser Haus, auf das Blatt in seiner Hand, dann auf mich. Sein Finger geht die Zeilen entlang, als ob er nicht lesen kann.
    »Wenn sie es könnten, wären sie nicht so«, sagt meine Mutter

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