Wintermörder - Roman
immer und dass Bücher das Einzige sind, woran man jetzt noch glauben kann.
»Fuchs, Heinrich Fuchs. Das ist doch dein Vater?«
Nein, mein Vater heißt Henryk, Henryk Lisowski.
Doch ich nicke.
»Das ist sie«, ruft er dem anderen zu, der rauchend am Auto lehnt und Mühe hat, den Hund zurückzuhalten, der laut bellend an der Leine zieht. Nachher werde ich noch einmal nach unten gehen, um die Kippe meiner Mutter zu holen.
Der Soldat kommt auf mich zu. Die Stiefel knirschen.
»Na Kleene«, sagt er, während er gleichzeitig die Mütze von meinen Haaren zieht, anschließend mit dem Finger mein Kinn in die Höhe schiebt und grinst. Fast freundlich.»Da haste nun Pech.«
Das verstehe ich sofort. Das Wort gibt es auch im Polnischen. Erst haben wir das Wort aus dem Deutschen übernommen und dann das Pech selbst.
Er lässt den Hund los, der mich anknurrt. Ich rühre mich nicht. Die Schnauze riecht zunächst an meinen Füßen, wobei ihm der Sabber aus dem Maul läuft. Er kriecht immer weiter unter den Mantel. Die Schnauze fährt in meine Kniekehle, unter das Nachthemd, bis hoch zwischen die Beine, sodass ich zu schwanken beginne. Das Wasser aus den Eimern schwappt über und ergießt sich über meine Beine. In Sekundenschnelle gefriert die Feuchtigkeit an meinem Körper. Mir wird eiskalt.
»Was wollen die denn mit der?«, fragt der Dicke. »Die macht sich ja jetzt schon in die Hosen.«
»Geht dich nichts an«, antwortet der Zweite, wirft die Zigarette zu Boden und tritt die Glut in den Schnee.
Das Auto fährt los, als die erste Straßenbahn an diesem Morgen vor unsrem Haus zum Stehen kommt.
Fünf Tage
7
Als Myriam Singer Dienstagmorgen die Augen aufschlug, schaltete sie als Erstes den Fernseher ein. Sie war eine Stun-de, bevor der Wecker klingelte, mit einem Gefühl der Unruhe aufgewacht, das sie mit dem Lifestylemagazin auf dem Bildschirm zu verdrängen suchte, was ihr nicht gelang.
Wieder war eine Nacht vergangen, die Zeit stahl. Zeit, die sie nicht hatte. Zeit, in denen der Entführer sich Frederiks weiter bemächtigte.
Was hatte er mit dem Jungen vor? Wie weit würde er gehen?
Nein, sie wollte es sich nicht vorstellen. Myriam gab sich keinen Illusionen hin. Ihre Phantasie stützte sich auf Akten, die akribisch alle Grausamkeiten aufzeichneten, zu denen Menschen fähig waren. Zwar hatte die Menschheit unzählige Quadratmeter Wälder gerodet, Städte gebaut und Autobahnen, aber sie hatte die Prinzipien des Dschungels nicht aufgegeben. Der Urwald war verschwunden, aber geblieben waren Wilde. Die es eigentlich nicht mehr nötig hatten, aus Hunger zu töten oder Schädeldecken als Trinkgefäße zu benutzen.
Sie lag im Bett und starrte die nackte Glühbirne an, die verstaubt und trostlos an der kahlen Schlafzimmerdecke hing.
Hatte der Entführer den Jungen in einen Keller eingesperrt?
In ein Erdloch?
Eine Kiste?
Hatte er ihn gefesselt? An die Wand gekettet?
Ihn geschlagen? Ihn missbraucht?
Ließ er ihn hungern?
Gab er ihm zu trinken?
Sie hatten keine Lösegeldforderung, sondern nur ein Foto, auf dem der Urgroßvater des Jungen abgebildet war.
Man konnte jemanden mit der Ungewissheit quälen. Der Frage, warum? Der Frage, wo ist mein Kind? Der Frage, ist es schon tot? Wurde es gequält? Warum ich? Wird er sich melden? Wird er anrufen? Jetzt? Oder nie?
Dazu noch Udo Jost. Ausgerechnet Jost. Etwas Schlimmeres konnte der Entführer den Ermittlungen nicht antun, als die Medien für die eigenen Zwecke zu nutzen. Sie waren der moderne Pranger. Die Opfer wurden in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt.
Als es an der Wohnungstür klingelte, dachte sie, es sei der Briefträger, der ihr demonstrativ morgens die Post an der Wohnungstür übergab, weil ihr Briefkasten wieder vollgestopft war von Fachzeitschriften und Werbebroschüren. Während sie bei den Akten im Gericht auf peinlichste Ordnung achtete, war sie bei ihren eigenen Unterlagen, Bankauszügen, Steuerbescheiden ausgesprochen schlampig. Schon alleine deswegen hatte Thomas nicht Recht gehabt mit seinem Vorwurf, sie sei die typische Beamtin.
»Staatsanwälte«, hatte sie geantwortet, »sind keine Beamte. Staatsanwälte sind der Gerechtigkeit verpflichtet, nicht dem Staat.«
Er hatte tatsächlich laut losgelacht.
Seufzend grub sie sich aus der Bettdecke, ging in den Flur und drückte die Sprechtaste. »Ja?«
»Liebler hier.«
»Was ist los?«
Noch während Myriam die Frage in die Anlage schleuderte, drückte sie den Türöffner und wünschte im
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