Wintermörder - Roman
leiden.«
»Niemand hat das Recht, die Wahrheit mit ins Grab zu nehmen.«
»Das hat mich nicht interessiert, und weißt du was, ich möchte auch jetzt nicht darüber reden.«
»Warum bist du so aggressiv?«
»Ich bin nicht aggressiv.«
Aber Sarahs Verhalten wirkte wie ein Stoppschild.
Vom Küchenfenster aus sah Myriam zu, wie Vera im Gar-ten in ihrem knallrosa Schneeanzug über einen Laubhaufen sprang, den niemand im Herbst entsorgt hatte. Von dort auf das schneebedeckte Erdbeerbeet, in der Hand eine Schaufel. Dann begann sie unbeirrt zu graben. Ihr kleiner Arm stach die Sandschaufel professionell in die gefrorene Erde. Doch sie kam nicht voran. Das Einzige, was sie auf ihrer Schaufel transportierte, war Schnee.
Sarah klopfte energisch ans Fenster, doch Vera ignorierte die Mutter. Diese klopfte lauter und schüttelte den Kopf.
»Lass sie doch«, sagte Myriam.
»Du musst ihre Schuhe ja nicht putzen«, entgegnete Sarah. Und dann: »Aber du warst ja genauso.«
Mit Genugtuung beobachtete Myriam, dass Vera ihre Mutter ignorierte, ja jetzt sogar mitten in das nasse Laub sprang. Bis sie plötzlich innehielt und erneut mit der Schaufel in einen Schneehaufen stach. Dann stieß sie auf Wider-stand. Sie begann, den Schnee mit den Händen wegzuräumen. Myriam konnte nicht sehen, was sie gefunden hatte. Es schien ihr zu gefallen, denn plötzlich tanzte sie um das Loch herum und stimmte einen Gesang an wie eine kleinwüchsige Eingeborenenfrau.
Der Gedanke kam plötzlich.
Geniale Einfälle in ihrem Beruf waren selten.
Myriam stand abrupt auf. »Ich muss nach Hause und mich umziehen«, sagte sie, »Henriette Winkler wird heute beerdigt.«
Myriam hatte auf dem Weg nach Hause das eingekauft, was ein Mensch des 21. Jahrhunderts zum Überleben brauchte: Milch, Brot, Wasser und zwei Deostifte. Sie stellte die Getränkekiste auf den Esstisch, wo die Post von mehreren Tagen sich mit drei Ausgaben der
Frankfurter Neuen Pres-se
, dem schmutzigen Frühstücksgeschirr der letzten Tage und teilweise schimmeligen Brotresten vermischte. Sie übersah es geflissentlich und ging ins Schlafzimmer, um nach dem schwarzen Kostüm zu suchen, das sie zur Beerdigung ihrer Mutter getragen hatte. Es war zwar aus leichtem Sommerstoff, und nun war es Januar, andererseits musste man bei einer Beerdigung frieren. Alles andere wäre respektlos. Sie fand es schließlich zerknittert in dem Schrankteil, in dem sie ihre ausgemusterten Schuhe aufbewahrte. Ein Anflug von Sentimentalität überfiel sie, als sie diese — im wahrsten Sinne des Wortes — Weggefährten betrachtete. Es wäre wirklich billiger weiterzurauchen, als ständig neue Schuhe zu kaufen. Allein seit Neujahr hatte sie sich sechs Paar Stiefel zugelegt, und bei dem Gedanken an die letzte Nacht überkam sie schon wieder der dringende Wunsch, diese durch ein siebtes Paar zu ergänzen. Unter dem Prinzip Ökonomie, Effizienz und Effektivität war die letzte Nacht mit Henri sinnlos gewesen, sozusagen ein Fehler in ihrer Lebensbuchhaltung.
Der Anrufbeantworter zeigte fünf Anrufe. Dreimal wurde einfach aufgelegt. Beim vierten Anruf hörte sie ein Zischen. Sie hörte es immer wieder ab und verstand nach und nach, wie jemand flüsterte: »Ich behalte dich im Auge.«
Ihre Hände waren plötzlich schweißnass. Es wurde Zeit, dass sie sich eine neue Geheimnummer geben ließ. Wenn diese Anrufe nicht aufhörten, dann würde sie eine Fangschaltung beantragen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst. Es war eine Bedrohung, die plötzlich überall war. In der Luft, in den Wänden, sie kam mit dem Schnee vom Himmel, sie wuchs aus dem Boden.
Die einzige Rettung war die Erinnerung an die letzte Nacht.
Je länger Myriam frierend am Hauptfriedhof auf Henri wartete, desto absurder erschien ihr, dass sie tatsächlich mit ihm geschlafen hatte, und sie hatte Angst vor einem postkoitalen Anfall von Melancholie. Was war nur in sie gefahren? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Doch diese Frage war leicht zu beantworten: Gar nichts. Sie hatte eben gar nicht gedacht. Was nicht immer so war, wenn es um einen Mann ging. Es hatte mehrere Fälle gegeben, in denen ihre Gedanken das Aktenstudium für eine Woche erledigten, während sich über ihr vergeblich ein Körper abmühte. Gestern Nacht war es anders gewesen, was sehr verwirrend war, wenn sie daran dachte, dass es Liebler gewesen war, der die Beine um sie geschlungen hatte, der zärtlich gelacht hatte, wenn sie stöhnte, dessen Haut vom Schweiß so nass
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