Wintermörder - Roman
gewesen war, dass sie das Gefühl hatte, sich zu verflüssigen, sich aufzulösen.
Sie ging in ungewohnt schnellem Tempo auf und ab, um sich in der Kälte Bewegung zu verschaffen. Ihre schwarzen Lackstiefel mit den silbernen Schnallen klackten auf dem Asphalt, als würde sie marschieren.
Eine große Menschenmenge drängte durch das Haupttor. Freunde, Bekannte, Geschäftsfreunde, Mitarbeiter, die Frankfurter High Society, die Oberbürgermeisterin. Doch weder Denise noch ihr Vater waren bisher eingetroffen. Die Beerdigung begann in zehn Minuten. Langsam wurde sie nervös.
Ihr Blick ging über die Menschenmenge. War der Täter darunter?
Wie tickte so jemand?
Was ging in seinem Kopf vor?
Welche Verbindungen wurden geknüpft?
Welche Gespräche führte er in seinem Innern?
Stand er in der Menschenmenge und freute sich? Freute sich, weil er etwas bewegt, weil er Einfluss genommen hatte? War er stolz auf sich? Empfand er sein Handeln als sein Recht? Oder litt er bei dem Gedanken, dass er so handeln musste, dass er nicht anders handeln konnte?
Sie haben immer eine Wahl, hatte sie einmal einem Bankräuber auf der Anklagebank zugerufen.
Vielleicht hatte sie nicht Recht.
Vielleicht war das Bewusstsein ein Diktator. Auch ihr eigenes.
Sie seufzte und schaltete das Handy aus. Kein Telefongespräch konnte wichtiger sein als der Tod. Sie neigte in der letzten Zeit zu Betrachtungen, die man nicht einmal mehr philosophisch nennen konnte.
Sie sollte solche Theorien dem Pastor überlassen, der mit seinen Ministranten anrückte. Das Kreuz voran, die Fahnen, die Aufstellung der Truppe. Sollte er doch Recht sprechen und ein Urteil fällen.
Ihre Gedanken waren einfach absurd. Absurdität in ihrer reinsten Form als Folge der Anspannung.
Als Oliver Winkler an ihr vorbeiging, ohne sie eines Blickes zu würdigen, war sie erleichtert. Sie konnte etwas tun. Als sie seinen Namen rief, ignorierte er sie und beschleunigte den Schritt. Myriam holte ihn erst ein, als er bei der Trauergemeinde angekommen war.
Sie stellte sich neben ihn. »Ich muss Sie sprechen.«
»Das ist hier eine Beerdigung«, antwortete er.
»Die noch nicht angefangen hat.«
»Dennoch ist es nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Wenn Sie sich jetzt nicht mit mir unterhalten, lasse ich Sie vorladen.«
Was sie mit Sicherheit tun würde.
Er zögerte einen Moment, ging dann drei Schritte zurück, drehte sich um und bog in einen Seitenweg des Friedhofs.
»Was ist mit den Versicherungsunterlagen?«, erkundigte sich Myriam.
»Welche Versicherung?«
»Der Brand des Einkaufszentrums in Krakau.«
»Was soll damit sein?«
»Das frage ich Sie.«
»Die werden noch bearbeitet.«
»Hat sich die Brandursache geklärt?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wie hoch ist die Versicherungssumme?«
»Da muss ich nachsehen.«
Der Mann log.
»Ich finde es sowieso heraus. Früher oder später. Früher wäre für Frederik besser. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Sohn? Vielleicht ist er schon tot?«
»Sprechen Sie nicht über meinen Sohn. Er geht Sie nichts an.«
»Er geht mich nichts an? Ich bin seit Tagen auf der Suche nach ihm, während Sie nicht nur eine Lüge nach der anderen erzählen, sondern gleichzeitig Denise mit Ihrer Sekretärin betrügen.«
Myriam wusste, dass sie eine Grenze überschritt. Sie sollte versuchen, sich zu beherrschen. Es gelang ihr nicht, stattdessen sagte sie:»Was ist mit Ihnen los? Von welchem Stamm kommen Sie?«
Im Grunde musste sie ihn bewundern, denn er bewahrte die Ruhe. Offenbar weil er mit einem anderen Problem beschäftigt war.
»Der Brand hat nichts mit der Entführung zu tun.«
»Es ist die zweite Spur, die nach Krakau führt«, sagte Myriam. »Ungefähr zu demselben Zeitpunkt hat Henriette Winkler Briefe erhalten. Wenn es also Brandstiftung war, dann müssen wir den Täter finden, verstehen Sie? Er könnte uns vielleicht auch zu Frederik führen.«
»Es war keine Brandstiftung.« Oliver Winkler wandte sich abrupt ab und ging zurück ans Grab von Henriette Winkler.
Der Graupel, der vom Himmel fiel, passte. Graue Eiskörner. Kalter Dreck. Graue Vergangenheit, die Eiseskälte menschlicher Grausamkeiten.
Myriam hatte vergessen, Handschuhe anzuziehen. Sie war bereits seit dreißig Minuten auf dem Friedhof, und die Beerdigung konnte nicht beginnen, weil die Familie der To-ten noch nicht eingetroffen war.
Irgendetwas musste passiert sein.
Hatte der Entführer angerufen?
Sie beobachtete das Taxi, das sich langsam dem Haupttor
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