Wintermörder - Roman
sie Oliver Winkler in einem Sessel sitzen, der mit eindringlicher Stimme den Entführer bat, ihm seinen Sohn zurückzugeben. »Seien Sie gnädig«, sagte er. »Denken Sie an seine Mutter. Denken Sie an Ihre Mutter.«
Die Kamera fuhr zur Seite. Oskar Winkler schüttelte einem Mann die Hand, der unverkennbar Hitler war.
26
Als Denise am Abend in Krakau ankam, fühlte sie sich seltsamerweise nach der langen Fahrt nicht erschöpft. Die Angst war der Aggression gewichen. Einer Aggression, die zum ersten Mal in ihrem Leben hoch an die Oberfläche trieb. Ihr Bewusstsein wurde überschwemmt von Wut, Zorn und einer kalten Form von Rachsucht. Ihr war bewusst, sie würde lange Zeit von diesem Hass getrieben werden, wie andere Menschen von Ehrgeiz oder Neid. Auch wenn sie Frederik finden sollte, dieses Gefühl würde sie nicht verlieren. Es war eine Narbe, die für immer bleiben würde.
Geduldig verharrte sie am Taxistand in einer langen Reihe von Menschen. Geduld würde sie die nächsten Stunden brauchen. Sie konnte es sich nicht leisten, dass ihre Energie aufgefressen wurde von unkontrollierter Panik. In Zukunft würde sie mit niemandem verhandeln, außer mit diesem Mann, der ihr Kind in seiner Gewalt hatte. Automatisch griff ihre Hand nach dem Handy und schaltete es an.
Sie atmete tief durch. Die Luft war rußig und roch nach Teer, nach den Abgasen der Autos, die unaufhörlich den Parkplatz verließen, vollgestopft mit Menschen in dicken Mänteln.
Neben der Straße türmte sich der Schnee der letzten Tage. Er war schwarz wie der Asphalt, und im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen glaubte Denise, die kalte Luft sehen zu können. Bleifarben hing sie über der Baustelle vor dem Bahnhof. Hier entstand ein neues Stadtviertel.
Endlich war sie an der Reihe. Das Taxi näherte sich langsam. Der Fahrer stieg aus und hob ihren Koffer in den Kofferraum. Sie zeigte ihm die Adresse des Hotels und bat ihn auf Englisch, am Wawel vorbeizufahren. Er nickte, öffnete die hintere Tür und ließ sie einsteigen.
Sie fiel in das zerschlissene Polster und hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Für einen Moment schloss sie die Augen, um sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Dann hob sie das Handy ans Ohr, um die Mailbox abzuhören. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, seine Nachricht als SMS zu schicken. Jeder schrie ihr Befehle entgegen.
»Verflucht, wo bist du? Bist du verrückt geworden? Total durchgeknallt? Melde dich sofort, wo immer du auch bist. Du kannst nicht davonlaufen.«
Fuck you, fuck you, Oliver
.
Dann Lieblers ruhige, tiefe Stimme, überdeutlich bemüht, einer hysterischen Mutter Vertrauen zu vermitteln: »Melden Sie sich, wo immer Sie auch sind. Sie können Ihrem Sohn so nicht helfen. Rufen Sie mich an. Lassen Sie uns reden. Wenn
Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an Herrn Matecki. Er gehört zum Polizeirevier in Kazimierz. Am Platz Szeroka. Telefonnummer 506743.«
Dagegen klang Myriam hysterisch: »Denise, wo bist du? Warum hast du mich nicht angerufen? Wir hätten reden können. Komm zurück! Du kannst das nicht alleine lösen.«
Ich habe versucht, dich anzurufen, Myriam. Immer wieder. Aber du warst nicht zu Hause.
Gefrorene Bäume und vereiste Dächer schwebten an ihr vorbei, ohne dass Denise sie wahrnahm. Dennoch übertrug sich die nächtliche Trostlosigkeit auf sie. Ihre Hand tastete den Mantel ab. Die Waffe steckte sicher bei ihrem Herzen, genau dort, wo sie hingehörte. Sie war ein Symbol, mehr nicht.
Der Taxifahrer warf immer wieder einen Blick in den Rückspiegel.
»First time in Cracow?«, sagte er schließlich.
»No.«
»Wonderful city.«
»Yes.«
»Do you need taxi next days?« Vielleicht hatte er einen Kurs in Businessenglisch abgeschlossen.
»No, thank you.«
»I give you my number.«
»Thank you, but …«
»I make you fair …«, er stockte. Schließlich sagte er auf Polnisch: »Złoty.«
Sie nickte und schloss demonstrativ die Augen. Vielleicht verstand er so, dass sie kein Gespräch wünschte.
Sie öffnete sie erst wieder, als sie ihn mit Stolz in der Stimme
Wawel
sagen hörte. Seine Hand zeigte nach rechts.
Links vor ihnen lag, erhöht auf einem Plateau, der beleuchtete Burgkomplex, den sie im Sommer besichtigt hatte, ohne zu ahnen, dass ihr Schicksal damit verknüpft war. Sie war durch die Königsgemächer gelaufen, hatte Kunst konsumiert, die Architektur genossen, mehr nicht. Es schien ewig her zu sein. Jetzt war aus der Sehenswürdigkeit eine Festung geworden,
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