Wintermörder - Roman
stöhnte und murmelte etwas vor sich hin, das klang wie »verrückt«, wie »durchgeknallt«.
»Eine zerschnittene Zeitung? Was meinst du genau mit zerschnitten?«
»Nur mein Bild«, antwortete Myriam und war froh, dass der Notarzt ihr Gespräch unterbrach. Dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erklären musste.
»Es wäre gut, wenn Sie das Knie die nächsten Tage nicht belasten. Ist ja bald Wochenende. Was die Schnittwunde am Mund betrifft, so lässt die Wirkung der Spritze in ein bis zwei Stunden nach. Ihr besorgter Freund kann Ihnen ja ein Schmerzmittel aus der Apotheke besorgen. Solche Verletzungen heilen schnell. Morgen wissen Sie schon nichts mehr davon. Das mit dem Knie kann allerdings dauern.«
Er drückte ihr die Hand und verschwand.
Henri schaute sie abwartend an, als wäre ihre Beichte noch nicht zu Ende.
»Ich kann nicht mehr«, sagte Myriam. »Können wir das nicht morgen klären?«
Fischer nickte.»Das Wichtigste haben wir ja. Schade, dass Sie sich die Autonummer nicht gemerkt haben. Gerade Sie hätten doch daran denken müssen.«
»Wie geht es Ihren Zwillingen?«, fragte Myriam statt einer Antwort. »Ist alles in Ordnung?«
Fischer nickte, und zum ersten Mal erkannte sie etwas wie Stolz in seinen Augen. War dieses Strahlen neu, oder hatte sie es einfach nur übersehen, weil sie es nicht wahrhaben wollte? Der Überfall hatte sie erniedrigt. Man hatte ihr die Maske vom Gesicht gerissen. Sie konnte sich nicht länger dahinter verstecken.
»Kümmere dich um sie«, sagte Fischer an Henri gewandt und erhob sich. »Wir brauchen sie noch. Wenn sie ausfällt, dann haben wir Hillmer auf dem Hals.«
»Was meinst du, was ich vorhabe«, antwortete Henri. »Und viele Grüße an Berit. Wenn das hier vorbei ist, dann kommen Myriam und ich zur Besichtigung vorbei.«
Er verfügte über sie, und sie hatte keine Kraft, um zu protestieren.
Fischer nickte Myriam zu.
Zehn Minuten später waren sie allein.
»Meinst du, dass es Jost war?«, fragte sie.
»Jost? Wie kommst du darauf?«
»Ich habe das Gefühl, dass er mich beobachtet. Vielleicht verfolgt er mich.«
»Soweit ich weiß, fährt er keinen Opel.«
»Wenn ich jemanden verfolge, dann nehme ich auch nicht meinen eigenen Wagen. Er weiß von uns. Er hat so eine Bemerkung gemacht.«
Henri antwortete nicht. Stattdessen schaute er sie an und wiederholte: »Von uns?«
»So meine ich das nicht«, wehrte sich Myriam.
Doch sein Mund war bereits an ihrem Ohr. »Du siehst cool aus«, flüsterte er. »Nein, nicht cool. Erbärmlich. Das gefällt mir.«
»Was mache ich denn nur? So kann ich mich nirgends sehen lassen.« Ihre Hand griff ins Haar.
Er grinste. »Ich kann dir die andere Seite abschneiden. Ich schneide mir die Haare auch selbst.«
»Deshalb«, murmelte sie.
Er erhob sich. »Wo hast du eine Schere?«
»Das ist ein Scherz!«
»Nein, ich bringe die andere Seite einfach auf die gleiche Länge, oder willst du so ins Büro?«
»In der Küche, erste Schublade rechts.«
Als die erste Strähne fiel, zuckte sie zusammen. Sie hatte das Gefühl, ihre ganze rechte Seite wäre kahl geschnitten.
»Nicht bewegen«, rief Henri.
»Ein Spiegel!«, rief sie.
»Später.«
Erst als Henris Handy klingelte und er die Schere zur Seite legte, konnte sie sich an den Kopf fassen. Sie hatte keine Haare mehr. Sie trug ein Fell auf ihrem Kopf.
Auf einem Bein hüpfte sie in den Flur, um sich im Spiegel zu betrachten, und erschrak. Nicht wegen der Haare. Henri hatte tatsächlich Talent. Doch ihre Lippen waren vom Blut verkrustet. Sie war leichenblass und sah aus wie ein Vampir.
»Den Fernseher?«, hörte sie Henri erstaunt fragen. »Wieso?« Und dann: »Schon gut, schon gut, beruhige dich, Ron. Ich schalte ihn ja schon an. Ja, ich beeile mich.«
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. Beide starrten sie auf den Bildschirm. Wieder stand Jost vor Denise’ Haus, das Mikrofon in der Hand. »Wohin ist Denise Winkler verschwunden? Ist sie wirklich auf der Suche nach ihrem Sohn, oder läuft sie nur der Vergangenheit davon? Wie viel weiß sie über ihren Großvater? Hat sie auch dieses Foto vorher nie gesehen, das beweist, dass ihr Großvater ein treuer Parteigenosse war, einer von Hitlers Helfern?«
Ein Bild erschien auf dem Bildschirm: Oskar Winkler. Langsam fuhr die Kamera auf ihn zu, nahm die Brusttasche seines Anzugs ins Visier und vergrößerte sie, bis das Parteiabzeichen deutlich zu erkennen war.
»Zurück bleibt ein verzweifelter Vater«, sagte Jost, und schon sahen
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