Wintermond
Herausforderung vor, am Abend vor Allerheiligen zwischen den Gräbern entlangzugehen. Einen Augenblick lang standen sie schweigend da. Die Dämmerung war schwer, still und ruhig. Oben auf dem Hügel schien der Friedhof das schwächer werdende Licht abzustoßen und die Nacht wie ein Leichentuch hinabzuziehen, sich selbst schneller als das umliegende Land mit Dunkelheit zu bedecken. Heather warf Jack einen Blick zu, um festzustellen, ob es ihm Probleme bereitete, daß die sterblichen Überreste von Tommy Fernandez in der Nähe bestattet waren. Schließlich war Tommy an seiner Seite gestorben, elf Monate bevor Luther Bryson niedergeschossen worden war. Wenn Tommys Grab ganz in der Nähe lag, würde Jack sich zwangsweise - und vielleicht zu lebhaft - an Gewalttaten erinnern, die am besten für immer den tieferen Gruften der Erinnerung verborgen blieben. Jack lächelte, als spüre er ihre Besorgnis. »Ich fühle mich wirklich besser, nun da ich weiß, daß Tommy an einem so schönen Ort seine letzte Ruhe gefunden hat.«
Als sie zum Haus zurückkehrten, lud der Anwalt sie ein, bei ihm und seiner Frau zu Abend zu essen und zu übernachten.
»Erstens sind Sie zu spät gekommen, um das Haus noch zu putzen und wohnlich einzurichten. Zweitens haben Sie keine frischen Lebensmittel hier, nur das, was vielleicht noch in der Tiefkühltruhe ist. Und drittens wollen Sie bestimmt nicht mehr kochen, nachdem Sie so lange unterwegs gewesen sind. Warum entspannen Sie sich heute abend nicht und fangen morgen ganz früh an, nachdem Sie sich erholt haben?«
Heather war dankbar für die Einladung, nicht nur wegen der Gründe, die Paul genannt hatte, sondern auch, weil ihr wegen des Hauses und der Einsamkeit, in der es sich befand, noch immer unbehaglich zumute war. Sie war zu dem Schluß gelangt, daß ihre Nervosität nichts weiter war als die erste Reaktion eines Stadtmenschen auf eine offene Landschaft und weite Flächen. Eine leicht phobische Reaktion. Befristete Agoraphobie. Das würde vorbeigehen. Sie brauchte nur einen oder zwei Tage - oder vielleicht auch nur ein paar Stunden -, um sich dieser neuen Landschaft und der neuen Lebensweise anzupassen. Ein Abend mit Paul Youngblood und seiner Frau wäre vielleicht genau die richtige Medizin. Nachdem sie im ganzen Haus, sogar im Keller, die Thermostate höhergestellt hatten, damit es morgen früh schön warm war, schlossen sie ab, stiegen in den Explorer und folgten Pauls Bronco zur Landstraße hinab. Er wandte sich in östliche Richtung, der Stadt entgegen, und sie blieben hinter ihm. Die kurze Dämmerung war unter der sich senkenden Mauer der Nacht zusammengebrochen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Dunkelheit war auf allen Seiten so tief, daß es den Anschein hatte, sie würde sich nie wieder vertreiben lassen, auch nicht durch den Sonnenaufgang. Die Ranch der Youngbloods war nach den vorherrschenden Bäumen auf ihrem Gebiet benannt worden. Scheinwerfer an beiden Enden des Schildes über dem Tor waren nach innen gerichtet und enthüllten grüne Buchstaben auf einem weißen Untergrund: PONDEROSA PINES - Goldkiefern. Unter dem Namen in kleineren Buchstaben: Paul und Carolyn Youngblood. Der Besitz des Anwalts, eine Ranch, die auch bewirtschaftet wurde, war beträchtlich größer als die der McGarveys. Auf beiden Seiten des Zufahrtweges, der noch länger war als der der Quartermass-Ranch, lagen weitläufige Komplexe mit rot und weiß gestrichenen Ställen, Reitgehegen, Pferchen und eingezäunten Weiden. Die Gebäude wurden vom matten Glanz schwacher Nachtlampen erhellt. Weiße Zäune trennten die ansteigenden Wiesen voneinander: schwach phosphoreszierende geometrische Muster, die sich in die Dunkelheit erstreckten, wie die Linien unergründlicher Hieroglyphen auf Grabmauern. Das Haupthaus, vor dem sie parkten, war ein großes, niedriges Gebäude im Ranch-Stil, errichtet aus Flußsteinen und dunkel gebeizter Kiefer. Es schien eine fast organische Ausweitung des Lands zu sein. Als er mit ihnen ins Haus ging, beantwortete Paul Jacks Fragen nach der Bewirtschaftung von Ponderosa Pines. »Wir haben uns eigentlich auf zwei Dinge konzentriert. Wir züchten Pferde mit guten Reiteigenschaften, eine sehr beliebte Sache im Westen, von New Mexico bis zur kanadischen Grenze. Und dann züchten wir verschiedene Rassen von Zirkuspferden, die nie aus der Mode kommen, hauptsächlich Araber. Wir haben eine der besten Araber-Blutlinien im ganzen Land, so schöne und perfekte Tiere, daß sie einem das
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