Wintermond
Geschenk zurück, ein verhaßter und stolzer Teil ihres komplizierten Ichs. Sie spürte die Frustration dessen, der dieses Geschenk machen wollte, des Gebers in der Dunkelheit, spürte Frustration und vielleicht Zorn, und deshalb sagte sie: Es tut mir leid, es tut mir leid. Nun wurde ihr das Geschenk - Freude, Friede, Liebe, Vergnügen - mit ungeheurer Gewalt, brutalem und unnachgiebigem Druck aufgedrängt, bis sie glaubte, sie würde davon zerquetscht werden. Die Dunkelheit um sie herum nahm Gewicht an, als läge sie tief in einem unergründlichen Meer gefangen, wenngleich die Finsternis, die sie umgab, viel schwerer und dicker als Wasser war und sie erstickte und erdrückte. Muß nachgeben, Widerstand ist sinnlos, laß es ein, Unterwerfung ist Friede, Unterwerfung ist Freude, das Paradies, das Paradies. Wenn sie sich nicht unterwarf, würde sie Schmerzen kennenlernen, die über alles hinausgingen, was sie sich vorstellen konnte, Verzweiflung und Qualen, wie nur die in der Hölle sie kannten, also mußte sie sich unterwerfen, die Tür in sich öffnen, es hereinlassen, akzeptieren, Frieden finden. Es hämmerte auf ihre Seele, stampfte und trommelte, ein wildes und unwiderstehliches Hämmern: Laß es ein, laß es herein, herein, herein.
LASS...ES... HEREIN.
Plötzlich fand die die geheime Tür in ihr, den Pfad zur Freude, das Tor zum ewigen Frieden. Sie ergriff die Klinke, drückte sie, hörte, wie das Schloß klickte, und zog die Tür auf, während sie vor Erwartung erschauderte. Durch den langsam größer werdenden Spalt: ein Blick auf den Geber. Glänzend und dunkel. Kälte auf der Schwelle. Schlag die Tür zu, schlag die Tür zu, schlag die Tür zu, schlag die Tür zu...
Heather explodierte aus dem Schlaf, warf die Bettdecke zurück und rollte sich mit einer fließenden und hektischen Bewegung aus dem Bett. Ihr hämmerndes Herz trieb ihr weiterhin die Luft aus den Lungen, während sie einzuatmen versuchte. Ein Traum. Nur ein Traum. Doch noch nie hatte sie einen so intensiven Traum gehabt. Vielleicht war das Ding hinter der Tür ihr aus dem Schlaf in die wirkliche Welt gefolgt. Ein verrückter Gedanke. Sie konnte ihn nicht abschütteln. Leicht schnaufend, tastete sie nach der Lampe auf dem Nachttisch und fand schließlich den Schalter. Das Licht enthüllte keine alptraumhaften Geschöpfe. Nur Jack. Er lag auf dem Bauch, den Kopf von ihr abgewandt, und schnarchte leise. Es gelang ihr, einmal tief durchzuatmen, obwohl ihr Herz noch immer raste. Sie war schweißgebadet und konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Mein Gott. Da sie Jack nicht wekken wollte, schaltete sie die Lampe wieder aus - und zuckte zusammen, als die Dunkelheit sich über sie senkte. Sie saß auf der Bettkante, wollte dort hocken bleiben, bis ihr Herz nicht mehr so hämmerte und das Zittern aufgehört hatte, dann einen Bademantel über ihren Schlafanzug anziehen und nach unten gehen, um bis morgen früh zu lesen. Den grünen Leuchtziffern auf dem Digitalwecker zufolge war es 3 Uhr 09, doch sie würde nicht wieder einschlafen können. Unmöglich. Vielleicht würde sie auch morgen nacht nicht schlafen können. Sie erinnerte sich an die glänzende, sich krümmende, nur halb auszumachende Präsenz auf der Schwelle und die bittere Kälte, die von ihr ausging. Sie spürte noch immer deren Berührung, eine anhaltendes Frösteln. Widerlich. Sie fühlte sich verseucht, innerlich schmutzig, und wußte nicht, ob sie diese Verderbtheit jemals würde abwaschen können. Sie kam zum Schluß, daß sie eine heiße Dusche brauchte, und erhob sich vom Bett. Der Ekel verwandelte sich augenblicklich in Übelkeit. In dem dunklen Badezimmer mußte sie würgen, konnte sich jedoch nicht übergeben; nur ein bitterer Geschmack blieb in ihrem Mund zurück. Nachdem sie das Licht gerade so lange eingeschaltet hatte, daß sie die Flasche mit dem Mundwasser fand, spülte sie den bitteren Geschmack fort. Sie löschte das Licht wieder und spritzte sich mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht. Dann setzte sie sich auf den Rand der Badewanne und trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Während sie darauf wartete, daß sie sich etwas beruhigte, versuchte sie zu ergründen, wieso ein bloßer Traum eine so starke Wirkung auf sie haben konnte, doch sie kam einfach nicht dahinter. Als sie nach ein paar Minuten ihre Fassung zurückgewonnen . hatte, kehrte sie leise ins Schlafzimmer zurück. Jack schnarchte noch immer. Ihr Bademantel lag auf der Lehne eines Queen-Anne-Stuhls.
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