Wintermond
aufgewachsen war, und in Los Angeles hatte es so wenig Traditionen und so ein schwaches Gemeinschaftsgefühl gegeben, daß ihr die Liebe dieser Rancher zu ihrer Heimat nun eher anrührend - und vielleicht sogar geistig erbauend - vorkam als morbid oder seltsam.
Heather säuberte auch den Kühlschrank und füllte ihn mit gesunden Lebensmitteln für ein schnelles Frühstück oder Mittagessen wieder auf. Das Tiefkühlfach war noch halb gefüllt, aber sie verzichtete vorerst auf eine Bestandsaufnahme, weil sie sich um dringendere Aufgaben kümmern mußte. Da Heather von ihrer Hausarbeit zu müde war, um noch zu kochen, fuhren sie vier Abende hintereinander nach Eagle's Roost, wo sie in dem Restaurant an der Hauptstraße aßen, dessen Besitzer und Betreiber der >Stier< war, der Auto fahren und kopfrechnen und tanzen konnte. Das Essen war erstklassige Hausmannskost. Die Fahrt von fünfundzwanzig Kilometern war keine Strapaze. Im südlichen Kalifornien wurde eine Fahrt nicht nur an der Entfernung, sondern auch an der Zeit gemessen, die man benötigte, um die Strekke zurückzulegen, und selbst ein kleiner Abstecher zum Supermarkt konnte in der Hauptverkehrszeit eine halbe Stunde dauern. Eine Fahrt von fünfundzwanzig Kilometern von einem Punkt in L. A. zu einem anderen dauerte womöglich eine Stunde, zwei Stunden oder eine Ewigkeit, je nach Verkehrslage und der gewalttätigen Neigungen anderer Verkehrsteilnehmer. Wer konnte das schon sagen? Die Fahrt nach Eagle's Roost jedoch dauerte zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Minuten, was ihnen wie nichts vorkam. Endlich einmal leere Straßen. Am Freitagabend - wie an jedem Abend seit ihrer Ankunft in Montana - schlief Heather ohne Schwierigkeiten ein. Zum erstenmal schlief sie jedoch nicht ungestört. In ihrem Traum war sie an einem kalten Ort, der dunkler war als eine mondlose und bewölkte Nacht, dunkler als ein fensterloses Zimrner. Sie ertastete sich den Weg, als wäre sie blind geworden, neugierig, aber zuerst furchtlos. Sie lächelte sogar, weil sie davon überzeugt war, daß sie an einem warmen, gut erhellten Ort hinter der Dunkelheit etwas Wunderbares erwartete. Ein Schatz. Vergnügen. Erhellung, Friede, Freude und etwas Transzendentes warteten auf sie, vorausgesetzt, sie fand den Weg dorthin. Süßer Frieden, Befreiung von der Furcht, ewige Freiheit, Erhellung, Freude, ein intensiveres Vergnügen, als sie es je gekannt hatte. Das alles wartete auf sie, wartete...
Doch sie stolperte durch die undurchdringliche Dunkelheit, streckte beide Hände aus und tastete, bewegte sich aber immer in die falsche Richtung, schlug diesen Weg und jenen ein, diesen und jenen. Die Neugier wurde zu einem überwältigenden Drang. Sie wollte haben, was auch immer hinter dem Wall der Nacht lag, mehr als alles andere in ihrem Leben, mehr als Nahrung oder Liebe oder Reichtum oder Glück, denn es war dies alles zugleich, und noch mehr. Suche die Tür und das Licht dahinter, das wunderschöne Licht, Friede und Freude, Freiheit und Vergnügen, die Erlösung vom Übel, die Verwandlung, so nah, so schmerzlich nah, greife danach, greife. Aus dem Wollen wurde Notwendigkeit, aus dem Zwang Besessenheit. Sie mußte haben, was auch immer sie erwartete - Freude, Friede, Freiheit -, und so lief sie in die geballte Dunkelheit, jede Gefahr mißachtend, stürzte sich vorwärts, versuchte hektisch, den Weg zu finden, den Pfad, die Wahrheit, die Tür, ewige Freude, keine Furcht vor dem Tod mehr, keine Furcht mehr vor irgend etwas, das Paradies, sie suchte es mit wachsender Verzweiflung, lief statt dessen aber stets vor ihm davon. Nun rief eine Stimme sie, fremd und wortlos, erschreckend, aber verlokkend, versuchte ihr den Weg zu zeigen, Freude und Friede und das Ende aller Trauer. Akzeptiere sie einfach. Akzeptiere einfach. Akzeptiere. Sie griff nach ihr, hätte sie nur den richtigen Weg eingeschlagen, sie gefunden, berührt, umarmt. Sie blieb stehen. Abrupt wurde ihr klar, daß sie dieses Geschenk gar nicht suchen mußte, denn sie stand neben ihm, im Haus der Freude, dem Palast des Friedens, dem Königreich der Erhellung. Sie mußte es nur hereinlassen, eine Tür in ihr selbst öffnen und es hereinlassen, sich der unvorstellbaren Freude öffnen, dem Paradies, dem Paradies, dem Paradies, sich dem Vergnügen und Glück ausliefern. Sie wollte es haben, sie wollte es wirklich unbedingt haben, denn das Leben war so schwer, wenn sie ohne es auskommen mußte. Doch irgendein starrköpfiger Teil von ihr wies das
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