Wintermond
Veränderung wirkten hypnotisierend, wenn sie sich schön und grazil zusammenfügten - aber auch, wenn sie häßlich und chaotisch waren. Jack spürte eine Bewegung im Raum, mußte sich aber anstrengen, um von den zwingenden protoplasmischen Bildern auf dem Schirm aufzusehen. Heather stand auf der Schwelle. Sie trug ihren gesteppten roten Bademantel, ihr Haar war zerzaust. Sie fragte nicht, was los war. Als wüßte sie es bereits. Ihr Blick richtete sich weder auf Jack oder Toby, sondern auf die Fenster hinter den beiden. Jack drehte sich um und sah eine Fülle von Schneeflocken, die wiederholt ihre Farbe veränderten, als das Display auf dem Monitor seine schnelle und fließende Metamorphose fortsetzte.
»Mit wem unterhältst du dich?« fragte er Toby.
»Kein Name«, sagte der Junge nach kurzem Zögern. Seine Stimme klang nicht so schal und seelenlos wie auf dem Friedhof, aber auch nicht ganz normal.
»Wo ist er?« fragte Jack.
»Kein Er.«
»Wo ist sie?«
»Keine Sie.«
»Was denn?« fragte Jack stirnrunzelnd.
Der Junge sagte nichts und starrte, ohne zu blinzeln, auf den Monitor.
»Es?« fragte Jack.
»In Ordnung«, sagte Toby.
Heather kam zu ihnen und betrachtete Jack mit einem seltsamen Blick. »Es?«
»Was ist es?« sagte Jack zu Toby.
»Was auch immer es sein will.«
»Wo ist es?«
»Wo immer es sein will«, sagte der Junge rätselhaft.
»Was macht es hier?«
»Es wird.«
Heather trat um den Tisch, baute sich auf Tobys anderer Seite auf und betrachtete den Monitor. »Das habe ich schon mal gesehen.«
Jack nahm mit Erleichterung auf, daß das bizarre Display offenbar doch nichts Einzigartiges war und daher nicht notwendigerweise in einem Zusammenhang mit den Ereignissen auf dem Friedhof stand. »Wann hast du es schon mal gesehen?« fragte Jack seine Frau.
»Gestern morgen, bevor wir in die Stadt fuhren. Auf dem Fernsehgerät im Wohnzimmer. Toby hat es sich angesehen...und war genauso hingerissen wie jetzt auch.« Sie erschauderte und griff nach dem Ein/Aus-Schalter. »Schalte es aus.«
»Nein«, sagte Jack, griff an Toby vorbei und hielt ihre Hand fest. »Warte. Ich will wissen, was passiert.«
»Schatz«, sagte sie zu Toby, »was geht hier vor, was für ein Spiel ist das?«
»Kein Spiel. Ich habe es geträumt, und in dem Traum kam ich hierher, und dann wachte ich auf und war hier, und dann haben wir uns unterhalten.«
»Ergibt das für dich den geringsten Sinn?« fragte sie Jack.
»Ja. Einen gewissen.«
»Was geht hier vor, Jack?«
»Später.«
»Kriege ich hier irgendwas nicht mit? Was hat das alles zu bedeuten?« Als ihr Mann nicht antwortete, fuhr sie fort: »Das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht«, sagte Jack. »Aber sehen wir doch mal, wohin es führt, ob wir es herausfinden können.«
»Was herausfinden?«
Die Finger des Jungen huschten geschäftig über die Tastatur. Obwohl auf dem Bildschirm keine Worte erschienen, hatte es den Anschein, daß neue Farben und Muster auftauchten und sich in dem Rhythmus von Tobys Anschlägen auf der Tastatur veränderten.
»Gestern, auf dem Fernseher ... ich habe Toby gefragt, was es war«, sagte Heather. »Er hat es nicht gewußt. Aber er hat gesagt... es gefalle ihm.«
Toby hörte auf zu tippen. Die Farben wurden schwächer, dann plötzlich wieder stärker und zerflossen zu völlig neuen Mustern und Schattierungen.
»Nein«, sagte der Junge.
»Was?« fragte Jack.
»Spreche nicht mit euch. Spreche mit...ihm.« Und zum Bildschirm sagte er: »Nein. Geh weg.«
Verbitterte grüne Wellen. Blutrote Blüten erschienen an mehreren Stellen des Bildschirms, wurden schwarz, blühten wieder rot auf, verwelkten und zerflossen zu einem zähflüssigen Eitergelb. Die endlose mutagene Darstellung machte Jack schwindlig, wenn er sie zu lange betrachtete, und ihm wurde nun klar, daß sie den unreifen Geist eines Achtjährigen völlig vereinnahmen und ihn hypnotisieren konnte. Als Toby wieder auf die Tastatur einhämmerte, verblichen die Farben auf dem Bildschirm - und wurden abrupt wieder heller, wenn auch in neuen Schattierungen und noch mannigfaltigeren und flüssigeren Formen.
»Es ist eine Sprache«, rief Heather leise aus. Einen Augenblick lang starrte Jack sie verständnislos an.
»Die Farben, die Muster«, sagte sie. »Eine Sprache.«
Er sah auf den Monitor. »Wie kann das eine Sprache sein?«
»Es ist eine«, beharrte sie.
»Da werden keine Muster wiederholt, und ich sehe keine Buchstaben oder Worte.«
»Unterhalten«, bestätigte
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