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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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gelebt hatte. Solange die Gelegenheit bestand, einen Beweis für dieses Phänomen zu bekommen, wollte er es so weit und so lange erkunden, wie seine Nerven durchhielten. Er hoffte, nie wieder eines Morgens mit der Befürchtung aufwachen zu müssen, daß seine Gedanken verwirrt und seine Wahrnehmungen nicht mehr vertrauenswürdig waren. Während er sich vorsichtig über das tote und niedergedrückte Gras der Wiese bewegte, wobei seine Füße leicht in den vom Frühling aufgeweichten Boden einsackten, achtete er aufmerksam auf jede Veränderung in dem Kreis der außergewöhnlichen Dunkelheit: eine nicht so tiefe Schwärze, Schatten innerhalb der Finsternis, ein Funkeln, der Hauch einer Bewegung, alles, was die Annäherung eines...eines Reisenden andeuten könnte.
    Er blieb einen Meter vor dem Rand dieser in den Augen schmerzenden Verdunkelung stehen, beugte sich leicht vor, verwundert wie ein Märchenheld, der in einen magischen Spiegel schaut, den größten Zauberspiegel, den die Gebrüder Grimm sich je einfallen ließen, einen Spiegel, der keine - verzauberte oder sonstige - Reflexion bot, sondern einen entsetzlichen Blick in die Ewigkeit. Er hielt das Schrotgewehr mit einer Hand, während er sich bückte und einen apfelsinengroßen Stein aufhob. Er warf ihn sanft zum Portal und rechnete damit, daß er mit einem metallischen Scheppern von der Schwärze abprallte, denn es fiel ihm noch immer einfacher zu glauben, einen Gegenstand zu betrachten als in die Unendlichkeit zu sehen. Doch der Stein überquerte die vertikale Ebene der Schwelle und verschwand geräuschlos. Eduardo Fernandez beugte sich näher heran. Versuchsweise schob er den Lauf der Remington über die Schwelle. Er verblaßte nicht in der Dunkelheit. Statt dessen beanspruchte die Schwärze den vorderen Teil der Waffe so vollkommen, daß es den Anschein hatte, jemand habe den Lauf und den vorderen Teil des Schlittens mit einer Hochgeschwindigkeitssäge sauber abgetrennt. Er zog die Remington zurück, und der vordere Teil des Gewehrs erschien wieder. Er schien intakt zu sein. Er berührte den stählernen Lauf und den gemaserten Holzgriff des Schlittens. Alles fühlte sich an, wie es der Fall sein sollte. Tief einatmend und keineswegs sicher, ob er tapfer oder nur verrückt war, hob er eine zitternde Hand, als wolle er jemandem winken, und schob sie vor, tastete nach dem Übergangspunkt zwischen seiner Welt und...was auch immer hinter der Schwelle lag. Er fühlte ein Prikkeln an der Handfläche und den Fingerkuppen. Eine Kühle. Als läge seine Hand auf einer Wasseroberfläche, sei jedoch zu leicht, um die Oberflächenspannung zu durchbrechen. Er zögerte.
    »Du bist siebzig Jahre alt«, murmelte er. »Was hast du zu verlieren?«
    Er schluckte heftig und stieß die Hand durch das Portal, und sie verschwand genauso, wie es bei der Schrotflinte der Fall gewesen war. Er stieß auf keinen Widerstand, und seine Hand schien am Gelenk glatt abgetrennt worden zu sein.
    »Großer Gott«, sagte er leise.
    Er ballte die Hand zur Faust, öffnete und schloß sie wieder, konnte aber nicht sagen, ob sie auf der anderen Seite der Barriere reagierte. Sein Gefühl endete an der Stelle, an der diese höllische Schwärze das Gelenk abgetrennt hatte. Als er die Hand aus der Schwelle zurückzog, war sie genauso unverändert wie die Schrotflinte. Er öffnete die Faust, schloß sie, öffnete sie wieder. Alles funktionierte, wie es funktionieren sollte, und er hatte wieder volles Gefühl in der Hand. Eduardo sah sich in der tiefen, friedlichen Mainacht um. Der Wald, der den unmöglichen Kreis aus Dunkelheit flankierte. Die hügelaufwärts verlaufende Wiese, die vom Mondschimmer in ein bleiches Licht getaucht wurde. Das Haus am höheren Ende der Wiese. Einige Fenster dunkel, während hinter anderen Licht brannte. Berggipfel im Westen, auf denen der Schnee sich phosphoreszierend vom Nachthimmel abhob. Die Szene war zu detailliert, um ein Ort in einem Traum oder Teil der von Halluzinationen heimgesuchten Welt der senilen Dementia zu sein. Er war also kein verrückter alter Narr. Alt, ja. Ein Narr wahrscheinlich auch. Aber nicht verrückt. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Schwelle - und fragte sich plötzlich, wie sie von der anderen Seite aussehen mochte. Er stellte sich eine lange Röhre aus perfektem, nicht reflektierendem Ebenholz vor, die direkt in die Nacht hinaus führte, mehr oder weniger wie eine Ölpipeline, die sich über die Tundra Alaskas erstreckte, sich

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