Wintermond
sei es diesem Kind - oder anderen Kindern, die es wirklich gab - schuldig, Potter die ganze Geschichte zu erzählen. Er hätte auch versuchen sollen, die Behörden hinzuzuziehen, auch wenn es eine frustrierende und erniedrigende Aufgabe war, jemanden von seiner Geschichte zu überzeugen. Vielleicht lag es am Bier, das er noch immer vom Morgen bis zum Abend trank, doch das Gemeinschaftsgefühl, das er in jener Nacht empfunden hatte, konnte er jetzt nicht mehr aufbringen. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Es war ihm unmöglich, sie nun plötzlich mit offenen Armen willkommen zu heißen. Außerdem hatte sich für ihn alles geändert, als er nach Hause gekommen war und die Spuren des Eindringlings gefunden hatte: die bröckelnden Klümpchen Erde, die toten Käfer, den Wurm, der blaue Stoffetzen an der geöffneten Backofentür. Er wartete mit Schrecken auf den nächsten Zug in diesem Teil des Spiels und weigerte sich gleichzeitig, Spekulationen darüber anzustellen, verdrängte augenblicklich jeden verbotenen Gedanken, der sich in seinem gequälten Verstand bilden wollte. Wenn es am Ende wirklich zu einer fürchterlichen Konfrontation kommen sollte, konnte er keine Fremden daran teilhaben lassen.
Dieser Schrecken war zu persönlich; er allein konnte ihn beobachten und ertragen. Er führte noch immer Tagebuch und beschrieb auf den gelben Seiten das Verhalten der Eichhörnchen. Er hatte nicht den Willen oder die Kraft, seine Erlebnisse so detailliert festzuhalten, wie er es beim erstenmal getan hatte. Er schrieb so zusammenhängend wie möglich, ohne eine relevante Information auszulassen. Nachdem er es sein Leben lang zu lästig gefunden hatte, ein Tagebuch zu führen, konnte er nun nicht mehr damit aufhören. Er versuchte, den Reisenden zu begreifen, indem er über ihn schrieb. Den Reisenden...und sich selbst. Am letzten Junitag entschloß der alte Mann sich, nach Eagles Roost zu fahren, um Lebensmittel und andere Vorräte zu kaufen. Da er nun tief im Schatten des Unbekannten und Phantastischen lebte, schien jede weltliche Handlung - eine Mahlzeit zu kochen, jeden Morgen das Bett zu machen, einzukaufen - eine sinnlose Verschwendung von Zeit und Energie zu sein, der absurde Versuch, eine nun verzerrte und seltsame Existenz mit einer Fassade der Normalität zu tünchen. Aber das Leben ging weiter. Als Eduardo den CherokeeKombi aus der Garage und auf die Auffahrt setzte, sprang eine große Krähe vom Verandageländer und flog mit kräftigen Schwingenschlägen über die Motorhaube des Kombis. Er trat auf die Bremse und würgte den Motor ab. Der Vogel stieg hoch in einen graugefleckten Himmel. Als Eduardo später in der Stadt den Supermarkt verließ, ein Einkaufswägelchen mit Vorräten vor sich herschob, hockte eine Krähe auf der Motorhaubenverzierung des Kombis. Er vermutete, daß es sich um dasselbe Tier handelte, das ihm vor über zwei Stunden einen tiefen Schrecken eingejagt hatte. Es blieb auf der Motorhaube hocken und beobachtete ihn durch die Windschutzscheibe, während er um den Cherokee ging und die Heckklappe öffnete. Während er die Tüten auf die Ladefläche hinter dem Rücksitz lud, wandte die Krähe nicht einen Augenblick den Blick von ihm ab. Sie beobachtete ihn auch, als er den leeren Einkaufswagen zum Supermarkt zurückbrachte, zum Wagen zurückkehrte und sich hinter das Lenkrad setzte. Erst als er den Motor anließ, ergriff der Vogel die Flucht. Die Krähe verfolgte ihn in der Luft fünfundzwanzig Kilometer durch die Landschaft von Montana. Eduardo konnte sie im Blick halten, indem er sich entweder vorbeugte und sich über das Lenkrad lehnte, um durch den oberen Teil der Windschutzscheibe zu sehen, oder indem er einfach aus dem Seitenfenster schaute, je nachdem, von wo aus das Tier ihn überwachte. Manchmal flog es neben dem Cherokee her und hielt Schritt mit ihm, manchmal flog es so weit voraus, daß es nur noch als kleiner Punkt auszumachen war, fast in den Wolken verschwunden wäre, nur, um sich dann zurückfallen zu lassen und wieder in der Nähe des Wagens zu bleiben. Es begleitete ihn bis nach Hause. Als Eduardo zu Abend aß, hockte die Krähe auf der äußeren Fensterbank, auf der Eduardo auch das Eichhörnchen zum erstenmal bemerkt hatte. Als er sich von seiner Mahlzeit erhob, um die untere Hälfte des Fensters zu öffnen, wich der Vogel zurück, genau wie das Eichhörnchen es getan hatte. Er ließ das Fenster offenstehen, während er seine Mahlzeit
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