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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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gesehen, nichts von alledem, was man in den Romanen liest.«
    Pick, pick, pick.
    Eduardo trank die Flasche Bier aus und wischte sich den Mund am Hemdsärmel ab. Nachdem der Vogel die Laus erwischt hatte, betrachtete er ihn ruhig, als wolle er die ganze Nacht dort sitzen bleiben und seinem weitschweifigen Unsinn zuhören, falls Eduardo nur weitersprach.
    »Ich glaube, du gehst ganz langsam vor, tastest dich voran, experimentierst. Die Erde kommt allen, die hier geboren wurden, ganz normal vor, aber vielleicht ist sie für dich einer der unheimlichsten Orte, den du je gesehen hast. Vielleicht bist du nicht mehr so ganz überzeugt von dir.«
    Er hatte das Gespräch nicht mit der Erwartung begonnen, daß die Krähe ihm antworten würde. Er spielte in keinem verdammten DisneyFilm mit. Doch das permanente Schweigen frustrierte und ärgerte ihn allmählich, wahrscheinlich, weil er den ganzen Tag lang Bier getrunken und der Alkohol ihn etwas aggressiv gemacht hatte.
    »Komm schon. Hören wir mit dem Blödsinn auf. Kommen wir zur Sache.«
    Die Krähe sah ihn einfach nur an.
    »Komm selbst vorbei, statte mir einen Besuch ab, zeige dein wahres Ich, schicke nicht einen Vogel, ein Eichhörnchen oder einen Waschbären vor. Komm als du selbst. Kein Kostüm. Na los. Bringen wir es hinter uns.«
    Der Vogel flatterte wieder mit den Flügeln, öffnete sie halb, aber das war auch schon alles.
    »Du bist schlimmer als Poes Rabe. Du sagst nicht mal ein einziges Wort, du sitzt einfach nur da. Taugst du zu gar nichts?«
    Der Vogel sah ihn an, sah ihn nur an.
    Und der Rabe rührt sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer...
    Obwohl Poe nie einer seiner Lieblingsschriftsteller gewesen war und er ihn vor langer Zeit gelesen hatte, in einer Zeit, da er noch herausfinden hatte müssen, was er wirklich schätzte, zitierte er nun laut die Sätze und erfüllte die Worte mit der Heftigkeit des gequälten Erzählers, den der Dichter geschaffen hatte: »Und in seinen Augenhöhlen eines Dämons Träume schwelen. Und das Licht wirft seinen scheelen Schatten auf den Estrich schwer...«
    Plötzlich, aber zu spät, wurde ihm klar, daß der Vogel und das Gedicht und sein heimtückischer Verstand ihn zu einer Konfrontation mit dem schrecklichen Gedanken geführt hatten, den er unterdrückt hatte,
    seit er am zehnten Juni Erdklumpen, Tiere und Blätter aus dem Haus geräumt hatte. Im Mittelpunkt von Poes >Der Rabe< standen ein junges Mädchen, Lenore, die dem Tod anheimgefallen war, und ein Erzähler mit dem morbiden Glauben, daß Lenore zurückgekehrt war, und zwar von...
    Eduardo schlug vor dem Rest dieses Gedankens eine geistige Tür zu. Vor Wut schnaubend, warf er die leere Bierflasche. Sie traf den Vogel. Vogel und Flasche taumelten in die Nacht hinaus. Der alte Mann sprang vom Stuhl auf und zum Fenster. Der Vogel flatterte auf dem Rasen und erhob sich dann mit einem wilden Flügelschlag in die Luft, in den dunklen Himmel. Eduardo warf das Fenster so heftig zu, daß beinahe das Glas zerbrochen wäre, verriegelte es und drückte dann beide Hände an den Kopf, als wolle er den fürchterlichen Gedanken herausreißen, falls er ihn nicht mehr unterdrücken konnte. An diesem Abend betrank er sich fürchterlich. Der Schlaf, den er schließlich fand, war dem Tod so ähnlich, wie er es sich nur vorstellen konnte. Falls der Vogel, während Eduardo schlief, zum Schlafzimmerfenster kam oder über ihm auf dem Dachrand ging, bekam er nichts davon mit. Am ersten Juli wachte er erst um zehn nach zwölf auf. Den Rest des Tages über versuchte er, die Nachwirkungen seines Bierrauschs zu lindern, was dazu beitrug, daß er nicht an die morbiden Verse eines schon lange toten Dichters denken mußte. Die Krähe blieb den ersten, zweiten und dritten Juni über bei ihm, vom Morgen bis in die Nacht, ohne Unterlaß, aber er versuchte, sie zu ignorieren.
    Keine Blickduelle wie bei den anderen Wachtposten. Keine einseitigen Gespräche. Eduardo setzte sich nicht auf die Veranda. Wenn er im Haus war, sah er nicht zu den Fenstern. Sein beengtes Leben wurde noch mehr eingeschnürt. Um drei Uhr am Nachmittag des vierten Juli erlitt er einen Anfall von Klaustrophobie, weil er das Haus zu lange nicht mehr verlassen hatte. Er holte das Schrotgewehr und brach zu einem kurzen Spaziergang auf. Er sah nicht in den Himmel über ihm, nur zu den fernen Horizonten. Zweimal jedoch sah er, wie vor ihm ein Schatten schnell über den Boden huschte, und wußte, daß er nicht allein war. Er

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