Wintermond (German Edition)
er auf Alex’ Worte reagieren sollte. Jo blickte abwechselnd zwischen den beiden hin und her. Auch er schien nicht zu wissen, wie er mit Alex’ Reaktion umgehen sollte.
„Deine Mutter hatte Depressionen“, sagte Jo dann ruhig und versuchte sich offensichtlich mit dieser Aussage eine Erklärung für den Tod seiner Frau einzureden.
„Ja, wegen dir und deinem Verhalten“, entgegnete Alex wütend. „Du hast doch genau mitbekommen, wie kaputt sie war, weil du ihr weder Respekt noch Liebe entgegengebracht hast. Für dich war eure Ehe doch nichts weiter als irgendein Schein und mit Mutter hast du vor deinen Kollegen wie ein glücklicher, erfolgreicher Familienvater ausgesehen.“ Alex musste erneut Luft holen. „Ja, sie hat vor Kummer getrunken, aber du hast immer nur weggesehen. Solange, bis sie sich umgebracht hat. Das ist einzig und allein deine Schuld!“
„So war das nicht“, gab Jo übertrieben gefasst zurück und wirkte in seiner Art fast apathisch.
Alex hatte seinen Vater noch nie so erlebt. Doch es war ihm egal. Sein Körper war so heftig von Adrenalin durchflutet, dass es unter seiner Haut kribbelte. Unbewusst krallte er sich immer fester in Bens T-Shirt und versuchte seine aufgeregte Atmung einigermaßen in den Griff zu bekommen.
„Doch, so war es“, sagte er dann entschlossen. „Und nach ihrem Tod warst du nie für mich da. Du hast nie gefragt, wie’s mir überhaupt geht. Nicht ein einziges Mal. Du hast dich ’nen Scheiß für mich und mein Leben interessiert!“ Alex wurde von Mal zu Mal lauter, konnte seinen tiefsitzenden Zorn, den er bislang immer erfolgreich zurückgehalten hatte, nicht länger beherrschen. „Dann ist mein bester Freund gestorben und auch dann warst du nicht für mich da. Du warst einfach nie für mich da! NIE!“
Er schnaubte cholerisch, seine Stimme hatte zu zittern begonnen. Es war, als ob er seine lang aufgebaute Mauer mit einem Mal zum Fall brachte und sich in jenem Moment derart entblößte, wie er es nie zuvor getan hatte - nicht einmal vor sich selbst.
Sein Vater blickte ihn an. In seinen Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen. Er sah verständnislos aus und genau das schmerzte Alex. Selbst sein emotionaler Nervenzusammenbruch schien nicht zu genügen, um Jo wachzurütteln und endlich zur Vernunft zu bringen. Alex begann sich zu fragen, warum er sich all das überhaupt antat. Es brachte doch sowieso nichts. Vermutlich würde er seinen Vater niemals ändern können.
Der Adrenalinspiegel in seinem Blut sank allmählich wieder. Stattdessen kehrte die erdrückende Leere in ihn zurück, die ihn innerlich wahnsinnig machte. Langsam lockerte er seine Hand, die sich noch immer fest in den Stoff von Bens T-Shirt krallte. Schließlich ließ er von dem Dunkelhaarigen ab und beschloss, aus dem Streit zu fliehen. Entschlossen eilte er schnellen Schrittes vorwärts zu seinem Zimmer und griff hastig nach der Türklinke.
„Alex, ich ...“, hörte er seinen Vater hinter sich.
Doch Alex ignorierte ihn. Er öffnete seine Zimmertür, trat ein und blieb schließlich ein letztes Mal stehen. Mit einem feindlichen Gesichtsausdruck, in dem nichts als pure Abscheu zu erkennen war, drehte er sich zu seinem Vater und fixierte ihn streng.
„Ich hasse dich!“, zischte er und spuckte die Worte dabei verächtlich aus.
Dann wandte er sich wieder um und knallte die Zimmertür hinter sich zu. Er schritt bis an sein Bett und blieb ziellos inmitten des Raumes stehen. Durch die Tür konnte er die dumpfe Stimme seines Vaters hören und vermutete, dass dieser sich nun bei Ben für Alex’ Auftritt entschuldigte.
Seine Hände kribbelten und mit einem Mal entwickelte sich in seinem Inneren das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu zerstören. In ihm kochte eine so enorme Wut, mit der er überhaupt nicht umzugehen wusste. Bislang hatte er all seine Sorgen und Probleme immer erfolgreich verdrängt. Doch in jenem Moment taten sich all seine Ängste und jeglicher Kummer zu einem nervenaufreibenden Gebräu zusammen, das ihn aggressiv werden ließ. Er dachte an seine Mutter, an seinen besten Freund und an Sam. Er dachte an seinen Vater, an Diego, seine Geldschulden und schließlich wieder an seine Mutter. Die Bilder in seinem Kopf flogen chaotisch an seinem inneren Auge vorbei und wiederholten sich dabei wie eine endlose Dauerschleife. So sehr er sich auch bemühte, schaffte er es nicht mehr, sich auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Seine Emotionen waren völlig durcheinander geraten
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