Wintermond (German Edition)
untypisch für ihn war. Seine für kurze Zeit zurück erlangte Fassade schien binnen Sekunden wieder in sich zusammen zu fallen. Er wusste nicht, ob er auf Bens Erscheinen wütend oder gelassen reagieren sollte. Mit einem strengen und zugleich irritierten Blick fixierte er ihn durch den Spiegel. Bens Augen strahlten nichts als Verständnis aus. Blitzartig wurden wieder sämtliche Erinnerungen in Alex wach. Er musste daran denken, wie er Sam tot aufgefunden und Ben ihn daraufhin getröstet hatte, daran, wie der Dunkelhaarige ihm bis in die Bernhard-Nocht-Straße gefolgt war und ihn letztendlich aus einer Situation gerettet hatte, die im Normalverlauf für ihn hätte negativ ausgehen können und zu guter Letzt an den Streit mit seinem Vater und daran, wie er Ben mit in den Konflikt gezogen hatte. Auf eine ihm unbekannte Art tat ihm dies sogar leid. Dennoch befand er sich aktuell in einer Situation, in welcher er nichts und niemanden sehen wollte. In seinem Kopf herrschte noch immer ein zu mächtiges Chaos, das es eigentlich erst einmal zu bewältigen galt. Alex fragte sich, wie Ben es immer wieder aufs Neue schaffte, seine Fassade zum Bröckeln zu bringen und fragte sich auch, warum der Dunkelhaarige sich ständig um ihn bemühte, ihm regelmäßig seine Hilfe anbot und nicht das kleinste Detail seiner Probleme an Jo weitergab, obwohl Alex ihn von Beginn an mies behandelt hatte.
Er wandte den Blick ab. Nervös wischte er sich einige nasse Haarsträhnen aus seinem Gesicht. Dann drehte er sich um und sah Ben direkt in die Augen. Der Dunkelhaarige stand wortlos da und betrachtete ihn in einer Art und Weise, wie Alex es nicht gewohnt war. Während die Gedanken des Blonden sich immer noch an vergangenen Szenen verfingen, fiel Bens Blick plötzlich auf seine Hand. Alex wollte gerade etwas zu seiner Verteidigung sagen und die ganze Verletzung als eine Kleinigkeit abtun, als Ben schon nach einem Handtuch griff und in sicheren Schritten auf ihn zuging.
„Was hast du denn da gemacht?“, fragte er dabei und deutete auf Alex’ blutrote Hand.
Alex war völlig überfordert. Er ahnte, was Ben vorhatte, wollte allerdings nicht, dass dieser ihn in einer lächerlichen Prozedur verarztete, geschweige denn überhaupt anfasste.
„Was willst du?“, entgegnete Alex deshalb streng und blickte sein Gegenüber ausdruckslos an.
Doch Ben ignorierte seine Frage, trat einen letzten Schritt auf ihn zu und hob das Handtuch, wollte es offenbar um Alex’ verletzte Hand wickeln. Alex stolperte daraufhin an dem Waschbecken vorbei nach hinten und wiederholte seine Frage noch einmal etwas deutlicher: „Ben, was willst du?“
Der Angesprochene seufzte leise und faltete nebenbei das Handtuch in seinen Händen auf.
„Mann, Alex“, sagte er dann und sah den Blonden mit einem gequälten Gesichtsausdruck an. „Ich hab’ nie verstanden, warum du so bist, wie du bist. Aber jetzt verstehe ich dich ...“, er pausierte einen Moment lang, als ob er auf eine Reaktion wartete, doch Alex stand lediglich da und horchte seinen Worten mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Ich verstehe dich ... wegen deinem Vater und so.“
Alex musste schlucken. Ungläubig schüttelte er sich, als ob er erst einmal aus seinem Gedankentief erwachen musste, um Bens Verhalten verinnerlichen zu können. Er fühlte sich überrumpelt und fand einfach nicht die passenden Worte, um etwas zu erwidern. Seine Kehle war wie zugeschnürt, während ein gemischtes Gefühl von Wut und Fassungslosigkeit durch seinen Körper zog. Einerseits fragte er sich, was der Dunkelhaarige sich überhaupt anmaßte, ihn in einer solch unpassenden Situation aufzusuchen und zu bequatschen, andererseits war er derartige Bemühungen überhaupt nicht mehr gewohnt und konnte gar nicht glauben, dass es tatsächlich jemanden zu geben schien, der sich um ihn sorgte. Doch statt diese Gedanken offen auszusprechen, verfiel er zurück in sein altes Muster und entgegnete mit einem arroganten Unterton: „Du sollst mich einfach in Ruhe lassen! Ist das so schwer zu kapieren?“
Ben presste seine Lippen zusammen, bevor er erneut auf Alex zutrat und offensichtlich einen weiteren Versuch wagte, nach dessen Hand zu greifen.
Schlagartig zog Alex seinen Arm noch vor einer möglichen Berührung zurück und blickte Ben abweisend an.
„Ich hab’ dir schon mal gesagt ...“, sagte er und klang dabei genau so verächtlich, wie es für ihn üblich war, „... dass du mich nicht anfassen sollst.“
Unbewusst wich er dabei
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