Wintermond (German Edition)
Figuren war recht professionell. Beide hatten bislang gute Züge gemacht.
Ben betrachtete das Schachbrett und spielte in seinem Kopf mögliche Spielverläufe durch. Bis zu einem möglichen Schachmatt gab es in jedem Fall noch ausreichend Züge und damit viele Fragen, die einander gestellt werden würden. Dennoch hatte Ben einen Plan. Es kam auf Jos Spielstrategie an, ob dieser aufgehen würde.
„Okay“, sagte er schließlich und trank unbewusst einen weiteren Schluck Wein. Er war so konzentriert, dass er dies erst bemerkte, als sich der bitter-süße Geschmack durch seine Kehle zog. Innerlich schüttelte er sich und spürte, wie sich vor Ekel eine Gänsehaut über seinen Körper legte.
„Ich beginne“, erklärte Jo bestimmt und musterte die Spielsituation ebenfalls gründlich.
In der Zwischenzeit ging Ben immer wieder neue Möglichkeiten durch und hoffte eigentlich nichts mehr, als dass das Spiel schnell ein Ende finden würde. Jo machte schließlich einen simplen Zug und schlug mit seinem Bauern einen von Ben. Dann blickte er vom Schachbrett auf und sah Ben fest in die Augen.
„Einfacher Zug, einfache Frage“, sagte er und grinste. „Fühlst du dich hier in der Villa wohl?“
„Ja“, antwortete Ben und war erleichtert.
Auch er machte einen simplen Zug mit einem Bauern und fragte daraufhin: „Bin ich in deinen Augen ein guter Praktikant?“
„Ja“, sagte Jo, „ein sehr guter, wenn nicht sogar der Beste, den ich bislang hatte.“
Er lächelte und zwinkerte Ben zu, bevor er sich zurück auf das Spiel konzentrierte, um daraufhin einen recht weit vorn stehenden König diagonal nach vorn zu bewegen.
„Strebst du als angehender Architekt deinem Traumberuf entgegen?“, fragte er.
„Ja. Ich hab’ schon als Kind nichts anderes gemacht, als mit Lego verschiedene Häuser zu bauen. Ich hab’ sogar ganz neue Gebäudearten mit den kleinen, bunten Steinen entworfen“, erzählte Ben und lachte.
„Na, wenn das mal kein Zeichen ist“, erwiderte Jo und lächelte zufrieden.
Ben musste erst einmal wieder verschiedene Züge durchgehen, bevor er sich nach einigen Minuten dafür entschied, seine Dame nach vorn zu ziehen und Jos König damit Schach zu setzen.
„Oh, oh ...“, stöhnte Jo daraufhin und machte zusätzlich eine gekünstelt panische Geste.
„Guter Zug, gute Frage“, konterte Ben und dieses Mal war er es, der überlegen grinste. „Hast du deine Frau geliebt?“
Jo blickte vom Brett auf und starrte Ben nahezu erschrocken an. Ben ließ sich davon allerdings nicht irritieren. Immerhin hatte Jo diese Spielvariante gewählt und vermutlich ähnlich heftige Fragen in petto.
„Ja, ich habe sie sehr geliebt“, antwortete Jo ruhig und wirkte einen Moment lang recht bedrückt. „Aber es wurde mit der Zeit schwierig zwischen uns, weil wir andere Lebensansichten hatten und sich damit verbunden immer mehr Probleme auftaten.“
Ben hörte aufmerksam zu und nickte verständnisvoll.
Jo trank noch etwas Wein und floh daraufhin mit seinem König auf das Startfeld von Bens Königin.
„Seit wann bist du ...“, begann Jo, räusperte sich dann noch einmal und sprach den Rest der Frage etwas leiser aus, „... schwul ... homosexuell ... oder wie auch immer du das nennen willst?“
Ben lachte verlegen auf und wunderte sich über die eigentlich unwichtige Frage, die für Jo recht interessant zu sein schien.
„Ich bin’s schon immer gewesen“, erklärte Ben. „Ich hab’ mich noch nie für Frauen interessiert.“
Jo nickte und sah dabei recht verwirrt aus. Das Thema war ihm offenbar äußerst unangenehm, Ben hingegen fand Jos Mimik und dessen Interesse an seiner Homosexualität recht amüsant. Dennoch versuchte er sich schnell zurück auf das Spiel zu konzentrieren. Er betrachtete die Position der verschiedenen Figuren. Der daraus resultierende Zug fiel ihm nicht sonderlich schwer. Etwas Derartiges hatte er von Beginn an geplant. Wenn Jo sich daraufhin verhalten würde wie berechnet, dann hatte Ben gute Chancen, das Spiel zu gewinnen. Also zog er seinen Läufer auf ein weißes Feld und bedrohte damit Jos Dame.
„Guter Zug“, sagte Jo knapp.
„Ich weiß“, erwiderte Ben und schmunzelte. „Damit hättest du rechnen müssen.“
„Vielleicht habe ich das ja“, gab Jo sicher zurück, schien in Bens Augen allerdings zu bluffen.
„Liebst du Alex?“, fragte Ben und versuchte weiterhin gelassen zu wirken. Innerlich war er nervös und konnte Jos Antwort kaum abwarten. Es folgte ein langes
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