Wintermond (German Edition)
dabei unsicherer, als er gewollt hatte.
Er bekam jedoch keine Antwort. Jo nahm nicht einmal die Zeitung herunter, sondern schien ihn stattdessen bewusst zu ignorieren. Ben fühlte sich schlecht und zum ersten Mal konnte er sich besser in Alex’ Rolle hineinversetzen, als je zuvor, da Jo diese Art des Desinteresses normalerweise nur seinem eigenen Sohn entgegenbrachte. Ben konnte sich an viele derartige Situationen zurückerinnern. Doch im Gegenteil zu Alex war er so etwas nicht gewohnt - schon gar nicht von Jo, denn bis gestern hatte dieser ihn stets wie einen guten Freund behandelt und ihn jeden Morgen mit offenen Armen empfangen.
Ben trat weitere Schritte vorwärts, griff im Stehen nach seinem Glas und schenkte sich etwas Wasser ein. Diese Geste war jedoch mehr ein Vorwand, mit dem er seine Unsicherheit zu überspielen versuchte. Er blickte noch immer in Jos Richtung und wartete. Ihm war egal, was der Architekt sagen würde, Hauptsache er sagte überhaupt irgendetwas. Doch dies geschah nicht und dadurch fühlte Ben sich mit einem Mal außergewöhnlich unwohl in seiner Haut. Er war nervös, während er das Glas an seine Lippen setzte und ein paar Mal an der sich darin befindenden Flüssigkeit nippte. Jo blätterte noch immer wortlos in der Zeitung. Die ganze Situation war unangenehm und sorgte letztendlich dafür, dass auch der letzte Hoffnungsschimmer in Ben erlosch. Plötzlich wurde ihm klar, dass er an Jos Entscheidung nichts mehr ändern konnte. Dafür hatte er zu viel riskiert und ihn offenbar ziemlich enttäuscht. Er erinnerte sich nur zu gut an ihre gemeinsame Schachpartie zurück, nach dessen Ende Jo ihm ausdrücklich zu verstehen gegeben hatte, seine Finger von Alex zu lassen. Daran hatte er sich allerdings nicht gehalten. Erschwerend kam hinzu, dass Jo laut Alex nicht viel von Schwulen hielt und Bens Neigung bislang tatsächlich verdrängt zu haben schien.
Ben hatte seine Chance gehabt, sie letztendlich jedoch nicht mehr ausreichend ernst genommen.
Das Bizarre an dieser bitteren Erkenntnis war jedoch, dass ihn daran am wenigsten das gescheiterte Praktikum störte. Eine derartige Denkweise passte gar nicht zu ihm. Im Normalfall würde er sich unzählige Vorwürfe machen und sich stundenlang selbst verfluchen. Doch das Praktikum war ihm eigentlich völlig egal. Für ihn stellte es kein großes Problem dar, in einem von Jos Büros weiterzuarbeiten. Was ihn jedoch erheblich störte, war die Tatsache, sich mit seinem Auszug endgültig von Alex entfernen zu müssen. Diesen Gedanken konnte er nicht ertragen.
Er nahm ein paar weitere Schlucke aus seinem Glas und stellte es daraufhin willentlich laut zurück auf den Tisch.
„Ich werd’ erstmal ’ne Runde laufen gehen“, erklärte er dann und wandte sich zum Gehen um.
Doch in genau diesem Moment senkte Jo seine Zeitung und räusperte sich, woraufhin Ben augenblicklich stehen blieb und sich wieder umdrehte. Er war gespannt, was als nächstes folgen würde.
Jo sah streng aus. Sein Blick hing fest an dem von Ben. Er legte die Zeitung sorgfältig zusammen und tat sie schließlich zur Seite. Dann stützte er sein Kinn mit gegeneinander gespreizten Fingern ab und warf Ben einen scharfen Blick zu.
„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte er Ben nachdrücklich.
Ben blickte irritiert zurück. Zunächst verstand er nicht, was Jo von ihm wollte, und musste erst eine Weile gedanklich spekulieren, bis ihm letztendlich eine Vermutung kam.
„Du meinst meinen Umzug ins Hotel?“, fragte er unsicher. „Nein, das hab’ ich natürlich nicht vergessen. Ich wollte nur kurz für ein paar Minuten an die frische Luft. Ich beeil’ mich und werd’ gleich danach meine Sachen zusammenpacken.“
Jo verzog keine Miene und antwortete erst nach ein paar Sekunden.
„Das meinte ich nicht“, erwiderte er sachlich.
Ben wurde noch verwirrter. Irritiert zog er seine Augenbrauen zusammen und neigte seinen Kopf dabei ein wenig zur Seite.
„Was denn dann?“, fragte er kritisch.
Jo starrte ihn noch einen weiteren Moment fest an, bevor er sich in einer langsamen Bewegung von seinem Stuhl erhob und selbstbewusst auf Ben zutrat. Etwa einen halben Meter von ihm entfernt blieb er stehen und blickte dem Dunkelhaarigen dabei prüfend in die Augen.
„Hast du das hier“, fragte er streng und hielt ihm währenddessen Bens Handy entgegen, „vielleicht vergessen?“
Die Unsicherheit in Ben wurde größer. Jo benahm sich äußerst merkwürdig, was nicht dazu passte, dass die ganze
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